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Projekt Bremenkrimi – Leseprobe
Disclaimer
Dieser Text ist eine Rohfassung in alter Rechtschreibung. Er ist weder überarbeitet noch lektoriert. Jedwede Fehler oder unlogische Passagen, die Du findest, darfst Du behalten 😏
1. Kapitel (Sa)
Von außen wies nichts darauf hin, daß es in der der Villa im noblen Bremer Stadtteil Oberneuland etwas Besonderes zu sehen gab. Gut, das Haus hätte in anderen, weniger exklusiven, Stadtteilen gut und gern ein Dutzend Familien beherbergen können. Auch das gepflegte Grundstück, auf dem es lag, war ein wenig größer als die der Nachbarn in der Straße.
Lediglich mehrere große Limousinen vor der Einfahrt verrieten die Anwesenheit einer Reihe Personen, die sich diese Art der Fortbewegung leisten konnten.
Etwas deplatziert wirkte für einen Nichtbremer dagegen ein einzelnes Hollandrad, das einfach an den Zaun gelehnt stand. Der ältere Herr, der zu diesem Vehikel gehörte, betrat gerade das Haus durch den Vordereingang.
»Ich habe mich ein wenig verspätet. Der Geist war willig, aber die alten Knochen haben die Entfernung unterschätzt.«
»Aber das macht doch gar nichts, lieber Henning! Ich bewundere sehr, wie rüstig Du mit beinahe achtzig bist.«
»Das sagt mir jemand, der aussieht wie Fünfzig. Wie alt bist Du eigentlich wirklich, lieber Alasdair? Du machst darum immer ein großes Geheimnis.«
»Du würdest es mir sowieso nicht glauben. Und jetzt komme herein. Wir haben mit dem Mahl auf Dich gewartet.«
»Darüber werden nicht alle Gäste glücklich gewesen sein.« Das fröhliche Augenzwinkern des Gastes war beinahe hörbar.
»Du hast recht. Jens hat sich ein wenig echauffiert.« Beide lachten verhalten. Dann verlor sich das Gespräch im Innern und die Eingangstüre schloß sich.
Heute trafen sich hier die höchsten Kreise der Hansestadt. Der halbe Senat befand sich vor Ort, denn niemand wäre so unklug, eine Einladung der Familie von Hagestolz abzulehnen. Ihre Unternehmen hatten nach dem Krieg die Stadt mit aufgebaut und ihr Einfluß reichte auch heute noch weiter, als die meisten der Anwesenden sich mit ihren begrenzten geistigen Möglichkeiten vorstellen konnten. Verabredungen, die hier getroffen wurden, blieben geheim, denn jemand, der es mit der Diskretion nicht so genau nahm, wurde nie wieder eingeladen.
Die Veranstaltung fand in einer saalartigen Zimmerflucht statt. Auf gegenüberliegenden Seiten des zentralen Areals gab es geräumige Durchbrüche in zwei etwas kleinere Nachbarräume. Die hohe Decke war reich mit Stuck verziert. Ein Kronleuchter mit olympischen Maßen hing so tief herunter, daß jemand, der diesen Raum zum ersten Mal betrat, unwillkürlich den Kopf einzog.
Die überwiegend männlichen Gäste standen in Grüppchen beisammen. Dienstfertige Kellnerinnen mit kurzen Röcken wieselten zwischen ihnen hin und her und servierten Getränke und Kanapées. Ein kleines Orchester war in einer helleren Ecke des Hauptraumes platziert und spielte Salonmusik.
Ein junger Mann, der auf der anderen Seite des Saales stand, blickte ausdruckslos über die anwesenden Personen hinweg. So ganz verstand er nicht, warum die Einladungskarte für diesen Abend morgens in seinem Briefkasten gelegen hatte. Vielleicht war eine der hier anwesenden Personen auf ihn aufmerksam geworden; immerhin hatte er gerade sein zweites Staatsexamen beendet und er glaubte, auf der Verleihungszeremonie einige der hier anwesenden Gesichter bemerkt zu haben. Wahrscheinlicher hatte aber seine Mutter ihre Hand im Spiel. Sie förderte ihn, wo sie nur konnte, und bestimmt verdankte er die Einladung ihr.
Der Mann schreckte hoch, als jemand die Hand auf seine Schulter legte.
»Sie müssen Johan Hartung sein. Ich habe mich schon darauf gefreut, Sie endlich kennenzulernen.«
Johan drehte sich um und seine Augen weiteten sich. Er ergriff die ihm angebotene Hand und schüttelte sie mit einer Verve, als wäre sie ein schmutziges Staubtuch.
»Herr von Hagestolz! Ich bin sehr erfreut, daß ich Ihrer Feier beiwohnen darf! Wir sind uns leider noch niemals persönlich begegnet. Womit habe ich die Ehre verdient, Sie kennenlernen zu dürfen?«
»Die Ehre ist auf meiner Seite.« Sein Gegenüber ertrug die Sympathiebezeugung, ohne eine Miene zu verziehen. »Nennen Sie mich Alasdair. Es liegt im Interesse unserer schönen Stadt, junge, aufstrebende Talente frühzeitig in die Entscheidungsprozesse mit einzubinden, die sie später gestalten sollen, wenn meine Generation dafür zu alt ist.«
Johan errötete. Sein Gegenüber traf offensichtlich den richtigen Ton. Dankbar nahm er das Glas Champagner an, das der Patriarch der Hagestolz-Familie ihm entgegenhielt.
»Zum Wohl!«
»Zum Wohl, Herr von Hagestolz … Al… Alasdär.« Johan trank das angebotene Glas mit einem Zug halb leer. »Kann es übrigens sein, daß auf Ihrer Einladung kein Anlaß stand, der heute gefeiert wird?«
»Das liegt durchaus im Bereich der Möglichkeit. Ich gönne mir einige Male im Jahr den Luxus, meine Freunde«, Alasdair von Hagestolz legte dabei wie selbstverständlich seinen Arm um Johan, »zu mir einzuladen. Unser Leben ist zu kurz, um es mit Geschäften und anderen Kalamitäten zu vergeuden, finden Sie nicht?«
»J… j… ja«, stotterte Johan, den die zutrauliche Geste völlig überraschte. Das Blut rauschte ihm in den Ohren und der allgegenwärtige Tinnitus erscholl für einen Augenblick in Martinshornstärke.
»Und jetzt wird es Zeit, daß Sie sich amüsieren.« Der Blick des alten Hagestolz wanderte bereits wieder zwischen den Gruppen anderer Besucher hin und her. »Das Büffet ist eröffnet. Ich wollte mich nur vergewissern, daß Ihnen diese Veranstaltung konveniert. Genießen Sie den Abend. Mein Büro wird Sie in den nächsten Tagen kontaktieren.«
Damit verschwand der alte Mann in der Menge. Im nachhinein hatte er gar nicht so alt gewirkt, wie er angeblich war. Das konnte aber auch professioneller Hilfe geschuldet sein. Johann erkannte ihre Spuren im Gesicht des Patriarchen. Für so etwas hatte er einen Blick.
Er fühlte sich, als habe er gerade das große Los gezogen und stürzte sich ins Vergnügen. Das Büffet kam vom teuersten Caterer der Stadt. Ihr Wagen kam ihm auf dem Herweg entgegen und er dachte sich sein Teil. So lud er sich einen Suppenteller übervoll mit Leckereien, die er sich normalerweise aus Budgetgründen verkniff: Seeteufel und Hummer sowie einen der exquisiten Salate. Das angebotene Brot verschmähte er. Dafür nahm er sich einen Eßlöffel Kaviar aus einem eisgekühlten Schälchen. Auf so einer Veranstaltung mußte der echt sein.
Auf vollen Backen kauend stand er wieder eine Weile an einem Stehtisch. Dann platzierte er den abgegessenen Teller auf dem Champagnertablett einer vorbeikommenden Kellnerin, eilte zurück zu den Futtertrögen, drängelte sich zwischen zwei anderen Gästen hindurch und lud sich einen neuen Teller voll.
Er war nicht mehr hungrig. Dafür hätte die Hälfte seiner ersten Portion genügt. Dennoch stopfte er die dargebotenen Leckereien in einem Tempo in sich hinein, als würden die Märkte am nächsten Tage für immer schließen. Den leeren Teller legte er anschließend achtlos in den Kübel eines großen Philodendrons.
Schließlich stand er in der Nähe der Musiker und betrachtete die wenigen dort anwesenden Frauen mit dem Blick eines Schlachthofbesitzers, der den Wert der Tiere taxiert, die gerade auf seinen Hof getrieben werden.
Meine Güte, das sind keine Titten mehr, das ist ein Gesäuge! Und die Schnepfe daneben hat einen Arsch wie ein Molkereipferd.
»Gehören sie zur Familie? Ich habe Sie hier noch nie gesehen.«
Eine junge Dame mit langen, schwarzen Haaren stupste ihn an.
Johan erstarrte für einen Moment und musterte sie dabei von Kopf bis Fuß. Was er sah, schien ihm zu gefallen.
»Bestimmt haben wir uns schon irgendwo gesehen.«
»Oh, ich glaube, doch nicht.« Sie trat einen Schritt zurück.
»Mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Hanna Marquess. Alasdair von Hagestolz ist mein Großonkel.«
»Johan Hartung.«
»Hartung wie der Bürgerschaftspräsident?«
»Genau der. Ich bin sein Sohn.« Er streckte ihr die Hand entgegen.
»Der Bürgerschaftspräsident, dann sind Sie gar nicht verwandt?« Sie ignorierte die Geste.
»Nein, aber was nicht ist … in der nächsten Woche habe ich eine persönliche Unterredung mit Alasdär.«
Johans Gegenüber wirkte nur wenig beeindruckt. »Mein Fehler. Diese Familienähnlichkeit … ich hätte gedacht, der alte Schwerenöter hätte …« Sie brach ab und schüttelte den Kopf.
»Wollen wir später privat irgendwo hingehen?« Diese Schnecke muß ich mir angeln! »Diese Veranstaltung wird ja nicht ewig dauern.«
»Sie haben da was …«
Hanna deutete auf seinen Mund und zog die Oberlippe kraus. Johan nahm sich eine Serviette von einem benachbarten Stehtisch, putzte sich damit ein Kaviarbällchen aus dem Mundwinkel und ließ sie anschließend achtlos fallen.
Als er sich wieder umdrehte, war seine schöne Gesprächspartnerin verschwunden.
Versteh einer die Frauen.
Naja, allzu viel Auswahl gab es hier zwar nicht, aber er würde schon jemanden finden, den er mit seinem Charme beeindrucken konnte.
Alasdair von Hagestolz legte auf der anderen Seite des Saals einen Arm auf einem Bistrotisch ab und nippte an seinem Glas, während er das Treiben seines Gesprächspartners von vorhin mit unbewegter Miene beobachtete.
»Was für ein Windbeutel!«, sagte der Mann, der mit ihm am Tisch stand. Sein militärisch kurzer Haarschnitt und eine gewisse Spannung in seiner Körperhaltung wirkten, als gehöre er nicht zu den Gästen. »Ich kann mir nicht vorstellen, was Fräulein Marquess an dem findet.«
»Behandeln Sie ihn trotzdem gut, Ludwig. Er steht unter meinem Schutz!«
Johan Hartung bekam nicht mit, daß über ihn geredet wurde. Gerade als er sich einer anderen Frau näherte, um sie zum Tanz aufzufordern, vibrierte es in der Tasche seines Jacketts. Er sah sich hastig um, ob jemand auf ihn achtete, zog dann das Smartphone heraus und tippte aufs Display.
»Hallo? … Oh Mama, ich habe nicht auf die Nummer gesehen. Die Scheinwerfer blenden gerade ein wenig …Wie, wo bin ich? Heute ist doch die Veranstaltung bei den von Hagestolz in Borgfeld. Hast Du mir nicht die Einladung besorgt … Du hast nicht …? Aber wer hat mich dann hergebeten? … Ist auch egal. Ich habe mit Alasdair von Hagestolz persönlich gesprochen. Er will mich in der nächsten Woche treffen …
Nein, ich finde das überhaupt nicht seltsam. Du wolltest doch, daß ich Karriere mache. Jetzt ist es so weit … Mama, ich bin erwachsen und habe mein Studium beendet. Du willst doch Deinem einzigen Sohn jetzt keine Vorhaltungen machen … Ja, ich passe auf mich auf. Und jetzt wartet ein hübsches Mädel darauf, von mir zum Tanz aufgefordert zu werden … wir sehen uns morgen. Tschüß Mama.«
Er legte auf. Besser ich schalte es ganz aus. Sie bringt es fertig und ruft wieder an.
Johan kam nicht mehr dazu, jemanden anzusprechen. Eine leichte Übelkeit, die er auf das Gespräch mit seiner Mutter geschoben hatte, schwoll plötzlich in seinem Innern an.
Habe ich etwas Verdorbenes gegessen? Ha! Diese teuren Cateringdienste kochen alle auch nur mit Wasser. Die werde ich rankriegen dafür! Wo sind nur die verdammten Toiletten?
Verzweifelt blickte er sich um. Das Gesichtsfeld erschien ihm plötzlich seltsam eingeengt. Einer der Angestellten sah, daß etwas nicht stimmte, und wies ihn zu einem Durchgang.
»Toiletten?«, fragte er dort den Herrn, der sich vorhin noch mit Herrn von Hagestolz unterhalten hatte.
»Ganz hinten, am Ende des Ganges links die Treppe hinunter.«
»Da… dan…« Er folgte der Anweisung. Nicht mehr ganz sicher auf den Beinen erreichte er die Treppe. Dort fand er auch endlich das Hinweisschild. Er mußte sich an beiden Geländern festhalten, sonst wäre er gestürzt. Taumelnd eilte er unten in Richtung der ersehnten Türe und riß sie auf.
2. Kapitel (Mo)
»Es ist sechs Uhr. Einen schönen guten Morgen. Es ist Zeit für die Nachrichten. Eine Autobombe ist gerade in der Innenstadt explodiert.«
Kriminalkommissar Torsten Jäger schreckte hoch.
Scheiße, die Woche fängt ja gut an!
»Verzeihung. Eine Autobombe ist gerade in der Hamburger Innenstadt explodiert. Bisher gibt es noch keine Informationen über den Hintergrund dieser Tat. Wir halten Sie während unseres Programms auf dem Laufenden über neue Entwicklungen. Washington. US-Präsident Trump hat während einer Pressekonferenz …«
Okay, das heißt, daß ich noch Zeit habe, aufzustehen, ehe ich im Präsidium auflaufe.
Torsten schaltete mit geschlossenen Augen den Wecker aus, drehte sich um Bett und legte seine Arme um … einen großen Teddy, der seit einiger Zeit den Platz seines Freundes im Bett neben ihm einnahm.
Ach, Václav, wie ich Dich vermisse!
Er atmete einige Male tief durch, richtete sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Blind angelte er mit den Zehen nach den Pantoffeln. Nichts. Er öffnete die Augen. Nichts. Nur das Morgenlicht, das ihn blendete und ein Brummen im Kopf, das langsam anschwoll. Eigentlich mochte er keinen Vodka. Dennoch hatte er am Vorabend die Flasche geext. Die Zeit für leckere Abendcocktails mit Václav war vorbei und das Zeug mußte weg.
Unsicher tastete er sich durch das Zimmer, umschiffte den Stapel mit Václavs gewaschener Wäsche, der neben der Tür säuberlich zusammengelegt auf den Boden lag, und fand seine Pantoffeln schließlich im Bad.
Da stehen sie gut.
Er ließ kaltes Wasser über die Hände fließen, formte damit eine Kuhle, ließ sie vollaufen und tauchte sein Gesicht hinein. Glücklicherweise ließ das Brummen unter der Schädeldecke jetzt nach. Etwas erfrischt stellte er sich unter die Dusche.
Danach zog er Schubladen aus der Kommode im Schlafzimmer und öffnete die Schranktür. Er unterdrückte die Verlockung, einfach in einen Trainingsanzug zu schlüpfen. Peter würde darauf gewohnt humorlos reagieren, wenn er so im Präsidium auftauchte. Also zog er ein frisches Oberhemd aus dem Schrank und schlüpfte in die Jeans von letzter Woche. Sie spannte unangenehm beim Zumachen. Mit großer Anstrengung schloß er den obersten Knopf. Es mußte sich wohl die Tage nach einer Nummer größer umsehen. Besser gleich zwei.
Du könntest auch wieder selbst kochen!
Er trank seinen Kaffee auf nüchternen Magen und drückte danach angewidert die leere Vodkaflasche neben den lax zusammengefalteten Pizzakarton in den Müll. Eine Erinnerung weniger. Er las den Einkaufszettel, den er vor dem Schlafengehen geschrieben hatte und strich alles Alkoholische von der Liste.
Salat, Kartoffeln, Gemüse und Obst. Hoffentlich halten die Vorsätze diesmal bis zum Abend.
Sie hielten genau bis zum Schnellimbiß am Präsidium. Mit einigen Donuts und einem großen Milchshake betrat er das Büro.
Moritz, sein Assistent, glänzte durch Abwesenheit. Wenn er nicht gerade Urlaub machte, war er krank oder auf Fortbildung. Derzeit befand er sich wohl in Elternzeit und Torsten würde noch mindestens sechs weitere Wochen allein zurechtkommen müssen.
Seufzend baute er seine Einkäufe auf dem verwaisten Schreibtisch auf. Nur den Milchshake nahm er mit an seinen Platz.
»Du bist spät.«, sagte jemand in der Bürotür.
»Ich weiß. Guten Morgen Peter.«
»Moin. Geht es Dir wieder besser?«
»Geht so.« Torsten rieb sich das Auge, in das er gerade beim Versuch, einen Schluck zu nehmen, den Strohhalm des Milchshakes gestochen hatte.
»Ich kann Dir nicht ewig den Rücken freihalten.«
Torsten seufzte.
»Du brauchst einen neuen Assistenten.«
»Ich habe doch Moritz.«
»Guter Witz. Du benötigst jemanden, der Dir Arbeit abnimmt und Dich motiviert.«
»Dann gib mir Klaus.«
Klaus war Peters persönlicher Assistent und wäre tatsächlich viel besser für den Job geeignet als Moritz. Unglücklicherweise verließ sich auch der Hauptkommissar auf seine Fähigkeiten.
»Ich habe jemand, der die Anforderungen ebenfalls erfüllt. Er hat sich gestern auf die Stelle beworben und er war sehr überzeugend.«
»Moment mal«, Torsten rieb sich immer noch die Augen, diesmal aber ungläubig. »Du hast … eine Stelle ausgeschrieben?«
»Ähm … nicht so direkt. Du arbeitest seit einem Jahr praktisch ohne Hilfe. Klar, daß man dann irgendwann den Überblick verliert.«
»Mein Überblick ist ausgezeichnet. Warum bist Du der Meinung, daß ich Hilfe benötige? Daß sich jemand einfach auf einen Job bewirbt, der nicht ausgeschrieben ist, das glaube ich Dir nicht.«
»Es ist aber so und ich halte ihn für durchaus geeignet, Dir zu helfen.«
Peter trat jetzt ins Zimmer. Ihm folgte ein schlaksiger, junger Mann, der Peter deutlich überragte. Da er den Kopf gesenkt hielt, fiel das aber erst auf den zweiten Blick auf.
»Torsten, dies ist Maximilian Waldgänger. Er wird Dich in der nächsten Zeit unterstützen.«
»Bitte nennen sie mich Max«, sagte der kaum vernehmbar. Er blickte auch jetzt nicht auf und versteckte seine Hände in den Taschen seiner Jeans.
Torsten blickte zunächst fassungslos auf Peter und betrachtete dann seinen Begleiter genauer. Was er sah, gefiel ihm nicht.
Er mochte gerade Zwanzig sein, mindestens zehn Jahre jünger als er selbst auf jeden Fall. Der hagere, fast knochige Körper, der strubbelige, schwarze Flattop, der fehlende Bartwuchs und die abstehenden Ohren unterstrichen diesen Eindruck noch. Das viel zu große T-Shirt hing über die Hose, etwas, das er Václav nie hätte durchgehen lassen.
Daß Peter dazu nichts gesagt hatte, wunderte ihn. Die Turnschuhe hatten bessere Zeiten gesehen und auch der kleine Rucksack, den er bei sich trug, wirkte nicht ganz sauber. Selbst die Auszubildenden in den Großraumbüros im Erdgeschoß kleideten sich sorgfältiger.
»Peter, ich brauche wirklich keine Hilfe.« Torsten bemühte sich, sein Mißfallen zu unterdrücken.
»Das ist keine Bitte. Ich benötige Dich voll einsatzbereit.«
»Ich bin einsatzbereit!«
»Das bist Du nicht!« Torsten zuckte ob des plötzlichen scharfen Tons zusammen. »Ich bin nicht blind, also verkaufe mich nicht für dumm. Du wirst Dir in nächster Zeit helfen lassen, ob es Dir paßt oder nicht.« Peter drehte sich um. »Und bring wieder Ordnung in Dein Privatleben«, sagte er noch im Gehen.
Eine kleine Weile blieb es ruhig im Büro. Dann stand Torsten auf, atmete tief durch und reichte dem anderen die Hand.
»Sie sind also Max. Ich bin Torsten. So ganz verstehe ich nicht, was Sie hier wollen. Nach diesem Fall im letzten Sommer halten mich doch sowieso alle für seltsam.«
»Was ich hier will, ist, daß Sie mir eine Chance geben!« Max schien gerade all seinen Mut zusammenzunehmen und blickte sein Gegenüber direkt an. »Und ich finde Sie gar nicht seltsam.«
Torsten blickte kurz in eisblaue Augen, aber schon hatte Max seinen Blick wieder gesenkt. Gleichzeitig nahm er einen starken Geruch wahr. Es kam ihm so vor, als befünde sich im Zimmer irgendwo ein nasses Tier. Er zog die Nase kraus und bemühte sich, flach zu atmen.
»Das freut mich«, antwortete er gepreßt.
»Nur das mit dem Bandenkrieg, das habe ich Ihnen keine Sekunde abgenommen.«
Torstens Mundwinkel zuckten. Das wunderte ihn auch nicht. Nur war es mit der Wahrheit in diesem Falle so eine Sache …
Auf der Suche nach einigen vermißten Personen aus der Schwulenszene waren sie einem Escort namens Paolo Costa auf die Spur gekommen, dessen empathische Fähigkeiten derart stark waren, daß man sie mangels eines besseren Terminus nur als paranormal bezeichnen konnte.
Die Polizei war ihm aber nicht als Einzige auf der Spur und bevor sie ihn zu fassen bekamen, kam es auf einem alten Militärgelände im Umland, wo sich der Mann aufhielt, zu einem Showdown zwischen zwei Gruppen. Er führte zu vielen Toten, die laut Gerichtsmedizin alle fast zeitgleich einen Schlaganfall erlitten.
Die wenigen Überlebenden dieses Abends waren nicht sehr gesprächig und das spärliche, das er ihnen entlocken konnte, enthielt keinerlei Fakten, die er hätte in einen Bericht schreiben können. Die sich widersprechenden Aussagen waren teilweise an Absurdität kaum zu überbieten. Bis heute hatten sie diesen Fall nicht aufklären können.
Der Verdächtige, ein junger Mann namens Paolo Costa, blieb seitdem verschwunden. Offiziell war er bei diesem Vorfall gestorben. Torsten glaubte aber nicht so recht daran.
Der Bandenkrieg war die offizielle Version, auf die er sich mit Peter und der Staatsanwältin geeinigt hatte.
Unglücklicherweise erzählten einige der bei diesem Einsatz anwesenden Beamten ungeachtet ihrer Verschwiegenheitspflicht Details über einen Wahnsinnigen, der all die Morde quasi im Alleingang begangen habe.
Die meisten lachten sie aus.
Torsten hatte seitdem aber einen gewissen Ruf weg.
»Das ist Ihr gutes Recht. Eine andere Version habe ich aber nicht«, erwiderte er.
»Ich verstehe.«
»Das glaube ich kaum.« Torsten machte eine Handbewegung in Richtung des verwaisten Schreibtisches von Moritz. »Richten Sie sich dort ein. Und dann erzählen Sie mir bitte, wie Sie den Hauptkommissar dazu gebracht haben, Sie mir zuzuweisen.«
»Das war einfach.« Max stellte seinen Rucksack auf den Tisch und entnahm ihm einen Stapel notdürftig gehefteter Blätter, die er ihm reichte. »Gestern gab es einen Polizeieinsatz in Borgfeld. Ich war … zufällig vor Ort und habe anschließend alle Informationen gesammelt und zusammengestellt.«
»Was für Informationen?«
»Lesen Sie selbst. Hier kommt schon mal der offizielle Teil.«
Max hob den Beutel an, in dem Torsten seine Donuts verstaut hatte und warf einen Blick hinein. Sofort begannen seine Augen zu leuchten.
»Bedienen Sie sich ruhig. Ich muß eigentlich sowieso abnehmen.« Torsten blätterte bereits in der Akte. »Ein Vermisstenfall also. Ein prominenter Fall, wie es aussieht.«
»Ist diese Familie von Hagestolz denn prominent?«
»Sie sind wohl nicht von hier?«
»Stimmt.«
Max hatte seinen Donut geradezu inhaliert, wischte sich die Finger an der Tüte ab und senkte den Blick wieder.
»Jetzt verstehe ich immerhin, warum dieser Ordner hier gelandet ist. Wer diesen Leuten indiskrete Fragen stellt, muß mit dem Risiko leben, daß sie sich hinterher beim Polizeipräsidenten beschweren. Das ist den anderen Teams wohl zu heikel.«
»Ihr Hauptkommissar wirkte jedenfalls erleichtert, als ich ihm diese Lösung vorgeschlagen habe.«
»Da haben Sie beide mir ja etwas Schönes eingebrockt. Wie kommt es überhaupt, daß er auf Sie gehört hat?«
»Ich konnte ihn davon überzeugen, daß Sie der Einzige sind, der diesen Fall aufklären kann.«
Torsten fühlte sich plötzlich, als wäre die Wirkung der Flasche Vodka vom Vorabend noch nicht ausgestanden. Ein dumpfer Druck benebelte seine Sinne und er stützte seinen Kopf in die Hände.
»Ist etwas nicht in Ordnung? Sie sehen blaß aus.«
»Es geht gleich wieder. Ich glaube, ich brauche ein Aspirin.«
»Sekunde.«
Max verschwand aus dem Büro und kam nach erstaunlich kurzer Zeit mit einem Glas Wasser und einem Blister zurück. Torsten drückte eine Tablette heraus und trank das Glas mit wenigen Schlucken ganz leer.
»Danke. Wie haben Sie so schnell …?«
»Geben Sie es zu: Sie brauchen mich … meine Hilfe.«
Max grinste linkisch, als er das sagte.
»Gar nichts brauche ich! Außerdem haben Sie mit Ihrer Antwort gleich drei neue Fragen aufgeworfen, die mir wesentlich mehr im Magen liegen als die Frage, warum der Hauptkommissar auf Sie gehört hat.«
Max blickte wieder zu Boden. Jedenfalls sah es zunächst so aus.
»Nehmen Sie sich, so viel Sie wollen. Ich sehe doch, wie scharf Sie auf die Donuts sind.«
Es dauerte keine drei Minuten, dann war die Tüte leer und flog zusammengeknüllt in den Papierkorb.
»Die Krümel und den Zuckerguß hätten Sie wenigstens drin lassen können. Sie wirken, als hätten Sie eine Woche nichts gegessen. Werden Sie so schlecht bezahlt?«
»Ich habe … ein Problem mit meinem Stoffwechsel.« Max’ Stimme klang kaum vernehmbar. »Er läuft manchmal so auf Hochtouren, daß ich mit dem Essen nicht nachkomme.«
»Sie sollten das untersuchen lassen.«
»Das … habe ich. Ich muß damit leben.«
»Okay, und jetzt beantworten Sie bitte meine anderen Fragen. Wenn Sie mein Assistent werden wollen, erwarte ich plausible Antworten.«
»Ähm … welche Fragen?«
»Zeigen Sie mir, daß Sie sie antizipieren können.«
»Okay.« Max blickte wieder zu Boden, aber Torsten hatte das Gefühl, daß er diesmal dabei lächelte. »Den Hauptkommissar zu überzeugen war einfach. Er traut zwar Ihren diplomatischen Fähigkeiten nicht, aber letztlich ist er froh, den Fall von der Backe zu haben. Die zweite Frage, die nach dem inoffiziellen Teil der Informationen, die ich Ihnen gegeben habe, kann ich Ihnen erst morgen beantworten. Ich weiß, wo sie liegen, aber ich muß sie erst … holen. Daraus ergibt sich dann auch, warum Sie eine von lediglich zwei Personen im Präsidium sind, die diesen Fall aufklären können.«
Max blickte wieder zu Boden und wirkte auf einmal so katatonisch, als hätte ihn der Wortwechsel völlig erschöpft. Torsten sah sich das einige Zeit an. Dann resignierte er.
»Okay, Sie wollen Ihre Chance. Da ich heute wohl nichts mehr aus Ihnen herausbekomme, erhalten Sie sie morgen. Bis dahin werden Sie aber noch einige Dinge für mich erledigen.«
Max atmete tief durch und hob seinen Blick kurz. »Ja?«
»Ist der Vorgang schon digitalisiert?«
»Nein.«
»Erledigen sie das als erstes. Ich erwarte die Informationen morgen früh in meinem Rechner vorzufinden.« Torsten reichte ihm die Akte zurück.
»Ich kümmere mich darum.« Max erhob sich und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.
»Ich bin noch nicht fertig!«
Der Angesprochene erstarrte in der Bewegung und senkte seinen Blick wieder.
»Danach werden Sie duschen. Sie riechen ein wenig nach … nach Haustier.«
»Ich … habe einen Hund.«
»Okay, nach Hund also. Besorgen Sie sich auch etwas Vernünftiges zum Anziehen. So kann ich Sie nicht nach Borgfeld mitnehmen. Eigentlich kann man Sie so nirgendwohin mitnehmen.«
Max errötete tief und blickte so starr auf den Boden, als wolle er ein Loch hineinbrennen, in das er versinken konnte.
»Und essen Sie bitte genug. Nicht, daß Sie mir unterwegs zusammenklappen.«
»Jawohl Herr … Torsten.«
»Und nun verschwinden Sie. Ich habe noch zu tun. Morgen früh Punkt Neun.«
»Jawohl.«
Max verschwand im Flur. Torsten blieb nachdenklich zurück. Zumindest hatte er – wenn auch mit Mühe – seine spontane Aversion zurückhalten können. Auch wenn es sonst nicht seine Art war, Kollegen zu siezen und jüngere schon gar nicht, gab ihm das in diesem Fall die Möglichkeit, ein wenig Distanz aufzubauen. Falls dieser Junge sein Äußeres in den Griff bekam und falls seine Antworten ihn morgen zufriedenstellten, würde er ihm eine Chance geben. Eigentlich wirkte er auf ihn zu unreif für solch einen Job, aber man würde sehen.
Torsten erledigte etwas Büroarbeit, die über das Wochenende aufgelaufen war. Sie ging ihm jetzt angenehm flüssig von der Hand. So befremdend dieser Vormittag in Teilen abgelaufen war, so hatte er ihn doch aus seiner Trübsal herausgerissen und auf andere Gedanken gebracht.
Zwischendurch sah er die Protokolle der Befragungen durch, die jetzt einer nach dem anderen in sein Postfach tröpfelten. Vermißt wurde ein Mann namens Johan Hartung. Er wurde zuletzt auf einer Veranstaltung im Hause von Hagestolz gesehen. Dort fiel sein Verschwinden aber niemandem auf. Laut der Aussagen mehrerer Hausangestellter schien ihm plötzlich übel geworden zu sein. Als er nicht wieder von den Toiletten zurückkam, nahm man an, daß er ein Taxi genommen habe und nach Hause gefahren sei.
Vermißt gemeldet hatte ihn erst am Folgetag seine Mutter. Deren Aussage war wesentlich umfangreicher und steckte voller Details, die mehr über das Mutter-Sohn-Verhältnis aussagten als über den Vermißten.
Vielleicht ist er einfach abgehauen, weil er es mit ihr nicht mehr ausgehalten hat.
So ganz verstand er nicht, warum er sich mit solch einem Fall beschäftigen mußte, denn es gab derzeit keinerlei Anhaltspunkte, daß diesem Johan Hartung etwas anderes zugestoßen sei, als daß er irgendwo seinen Rausch ausschlief. Normalerweise regelten so etwas die Reviere vor Ort.
Er stand auf, ging zu Peters Büro und trat ein, ohne anzuklopfen. Als er sah, daß sein Vorgesetzter telefonierte, setzte er sich auf den Besucherstuhl und wartete, bis das Gespräch beendet war und Peter von seinem Notizblock aufblickte.
»Was willst Du noch? Ich dachte, wir hätten alles geklärt.«
»Haben wir nicht. Das hier ist doch kein Fall für uns.«
»Nicht direkt. Allerdings gibt es da zusätzliche Gesichtspunkte, die wir berücksichtigen müssen.« Peter fixierte dabei einen Punkt auf seinem Schreibtisch.
»Okay, wer ist der Vermißte bzw. wer ist seine Mutter?«
»Sie ist … ihr verstorbener Mann war lange Jahre Präsident der Bürgerschaft.«
»Okay, daher kenne ich den Namen. Und sie hat so viel Einfluß?«
»Sie nicht, aber einige der Leute, die sie kennt und anscheinend um Hilfe gebeten hat. Glaube mir, daß ich keine andere Wahl habe, als jemand darauf anzusetzen.«
»Aber warum ich und vor allen: warum dieses Kind?«
»Weil Du jemanden brauchst, der Dir wieder die Laufarbeit abnimmt und weil sonst niemand … Du weißt, daß Du nicht sehr beliebt bist seit dieser Sache damals.«
»Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Außerdem bin ich nicht derjenige, der über Paolo Costa geredet hat.«
»Natürlich nicht. Du hast den Fall seinerzeit fast im Alleingang gelöst und deshalb halte ich Dir auch den Rücken frei.«
»Das sehe ich.«
»Versteh mich doch. Irgend jemand muß es tun und die Leute, die mir im Nacken sitzen, erwarten, daß es jemand Kompetentes ist. Du bist mein bester Mann.«
»Wow, ein Lob aus Deinem Munde. Ich werde mir den Tag rot im Kalender anstreichen.«
»Übertreib es nicht!«
»Und dieses … dieser Max Waldgänger überzeugt mich auch nicht. Er läßt sich jedes Wort aus der Nase ziehen und erzählt etwas von inoffiziellen Informationen, die er mir bis morgen besorgen will.«
»Er war sehr begierig darauf, mit Dir zusammenzuarbeiten. Hoffentlich ist es nicht, weil er Dich lediglich … interessant findet. Ich weiß ja nicht, was man in Deiner Szene anstellt, um jemanden näher kennenzulernen.«
»Es gibt keine besonderen Umgangsformen und es ist nicht meine Szene. Manchmal weiß ich nicht mal, ob es in Bremen überhaupt eine Szene gibt, die diesen Namen verdient.« Torsten bemerkte, daß er sich gerade in Rage redete und bemühte sich, seinen Ärger zu kanalisieren. »Außerdem glaube ich nicht, daß dieser Junge schon einmal Sex hatte und daß Du ihn für schwul hältst, wundert mich.«
Der Hauptkommissar zuckte bei der Nennung des Wortes schwul zusammen, sagte aber nichts.
»Gut, an Deinen Vorurteilen arbeiten wir später. Jetzt werde ich die Befragung nachholen, die man gestern offensichtlich vergessen hat.«
»Sei bitte vorsichtig. Diese Leute werden nicht zögern, uns das klarzumachen, wenn Du sie vor den Kopf stößt.«
»Besitzen sie mehr Einfluß als die Mutter des Vermißten? Vielleicht sollte ich es darauf anlegen. Ich wollte diesen Fall nicht. Wenn es denn einer ist.«
»Das meinst Du nicht ernst.«
»Es gibt keinen Grund für sie, nicht mit mir zu reden. Und wenn ihnen meine Fragen nicht gefallen, stecken sie in der Sache mit drin.«
Torsten stand auf und ging grußlos. Jetzt galt es, diese Angelegenheit schnellstmöglich zu klären. Mit Chance hatte dieser Hartung sich bereits wieder irgendwo gemeldet und wenn nicht …
Er suchte aus den Protokollen dessen Handynummer heraus. Die ermittelnden Beamten hatten gestern bereits mehrfach versucht, dort anzurufen, strandeten aber auf der Mailbox.
So erging es auch Torsten.
Er setzte sich kurz an seinen Rechner und schrieb eine Auskunftsanfrage an den Provider, dem die SIM-Karte im Handy des Vermißten gehörte. Dann druckte er aus den spärlichen Unterlagen einige Bilder aus, auf denen der Vermißte einigermaßen klar zu erkennen war. Danach verließ er das Präsidium und stieg auf sein Fahrrad. Wenn er es schon nicht schaffte, wieder Gewicht zu verlieren, wollte er zumindest fit bleiben.
Als er die Heerstraße stadtauswärts fuhr, erschien es ihm, als folge ihm jemand. Er drehte sich mehrmals um, entdeckte aber nichts außer einem streunenden Hund, der eine kurze Strecke hinter ihm herlief und dann in die Grünanlage des Rhododendronparks abbog.
Vielleicht sitzt irgendwo ein Spanner hinter einem Fenster.
Sowas sollte es geben. Am besten ignorierte er das Gefühl. Er trat in die Pedale und kam etwas außer Atem nach einer Weile in der Seitenstraße im noblen Stadtteil Oberneuland an, in der sich das Haus derer von Hagestolz befand. Alte Bäume standen auf beiden Seiten und überschatteten die Straße. Zusammen mit den blickdicht bewachsenen Hecken an den Grundstücksgrenzen ergab sich der Eindruck, durch einen grünen Tunnel zu fahren.
Es gibt wohl schlimmere Schicksale als hier zu leben.
In großzügig bemessenen Abständen befanden sich Einfahrten zu den Grundstücken. Vor einem besonders großen Areal befand sich sogar ein Tor.
Hier muß es sein, auch wenn sie alles gut gegen Einblick geschützt haben. Die Hausnummer stimmt. Verflixt, was riecht hier so stark nach Katzenurin?
Mit Genugtuung nahm er zur Kenntnis, daß die Buchsbaumhecke im nächsten Sommer nicht mehr hier stehen würde. An mehreren Stellen zeigten sich nämlich kleine, gelbe Bereiche.
Der Gestank ist bald weg. Die Zünsler werden dafür sorgen.
Er drückte den Klingelknopf an der Gegensprechanlage neben dem Tor.
»Hallo?«
»Jäger, Kriminalpolizei. Ich hätte noch einige Fragen.«
»Melden Sie sich bitte vorher an.«
»Ich kann Sie auch vorladen, wenn Ihnen das lieber ist.«
Eine Antwort erhielt er nicht, aber der Summer ertönte und ein Torflügel schwang auf. Dahinter offenbarte sich eine Reetdach-Villa auf einer großzügigen Fläche mit englischem Rasen. Nach hinten schlossen sich einige Nebengebäude an. Er schob sein Rad die Einfahrt entlang und lehnte es neben der Eingangstüre an die Wand.
»Hinten herum. Und nehmen Sie bitte Ihr Gefährt mit.« Auch die Eingangstür besaß eine Sprechanlage.
Gehorsam schob er sein Rad den Kiesweg entlang, der links um die Villa herumführte. Trotz ihrer Größe wirkte sie dabei nicht klotzig. Der Architekt verstand offensichtlich sein Handwerk und hatte die Konturen mit einer Vielzahl geschwungener Linien abgemildert.
Hinter dem Haus nahm ihn eine Dame in Empfang. Das glatte und faltenlose, dezent geschminkte Gesicht hätte durchaus einer Zwanzigjährigen gehören können, die Pigmentflecken auf dem freien Stück Haut über dem Dekolleté aber nicht.
»Ihren Dienstausweis bitte!«, sagte sie jetzt barsch.
»Torsten Jäger, Kriminalkommissar.« Torsten zeigte ihn vor, nachdem er sein Fahrrad wieder gegen die Wand gelehnt und sich dafür einen giftigen Blick eingefangen hatte. »Und mit wem habe ich die Ehre?«
»Valerie Hagestolz-Böhm.« Sie studierte das Dokument akribisch und tippte einige Daten in ihr Smartphone. Dann öffnete sie eine Flügeltüre schritt hindurch und winkte ihm, ihr zu folgen.
Torsten sah sich um. Der Raum besaß die Dimension einer Dreizimmerwohnung und wurde offensichtlich als Diele genutzt. Davon zeugten einige Bauernschränke und ein überdimensionales Buffet. Alle Möbel waren sorgfältig restauriert worden und auf dem Buffet stand auf einem Platzdeckchen eine große, eiförmige, pastellfarbene Vase, bei deren Anblick sich Torsten spontan an Bord des Raumfrachters Nostromo versetzt fühlte. Mit einem leisen Schaudern wandte er sich der Dame zu, die ihn hereingebeten hatte.
»Ich bin eine Cousine des Hausherrn. Wie kann ich Ihnen noch helfen?«
»Waren Sie bei der Feier vorgestern Abend anwesend?«
»Es handelte sich um einen Empfang.«
»Okay. Waren Sie bei dem Empfang vorgestern Abend anwesend?«
»Nein. Das heißt, nur am frühen Abend.«
»Wo waren Sie danach?«
»Fragen Sie mich allen Ernstes nach einem Alibi? Solch eine Behandlung sind wir von Ihrer Behörde nicht gewohnt.«
»Und ich bin es nicht gewohnt, daß in einem Haus wie dem Ihrigen Leute einfach verschwinden. Außerdem befremdet es mich, daß Sie die Sache gleich so hoch hängen, wo ich Ihnen doch nur freundlich eine Frage gestellt habe.«
»Ich war bei den Nachbarn.« Sie wies auf das Haus nebenan. »Die Herrschaften sind gerne unter sich. Meine Anwesenheit wurde nur zu den Vorbereitungen benötigt.« Ihr Mienenspiel zeigte eine Mischung aus Ärger und Verlegenheit.
»Ist denn jemand hier, der mir mehr sagen kann?« Torsten verhielt sich taktvoll und bohrte nicht weiter nach.
»Die Caterer möglicherweise.«
»Es kann doch nicht sein, daß von der ganzen Familie niemand anwesend war.«
»Der Hausherr natürlich, Alasdair von Hagestolz, und Hanna glaube ich.
»Dann möchte ich mit beiden Personen reden.«
»Sie wollen den Hausherrn vernehmen? Das dürfte Konsequenzen für Ihre berufliche Laufbahn haben.«
»Zunächst wird es Konsequenzen für Sie persönlich haben, wenn Sie nämlich meine Ermittlungen behindern. Wollen Sie das?«
Torsten sah, daß er hier mit Freundlichkeit nicht weiterkam. Er hatte nicht vor, sich einschüchtern zu lassen und ließ es daher auf eine Konfrontation mit der Doppelnamendame ankommen.
»Na, na, na, hier will doch sicher niemand einen Streit vom Zaun brechen, oder?«
Die sonore Stimme gehörte einem Herrn, der plötzlich neben ihnen stand, ohne daß einer der Beiden ihn kommen gesehen hatte. Beide zuckten synchron zusammen.
»Alasdair, dieser Herr möchte mit Dir …«
»Ich habe alles vernommen. Eure Unterredung hört man im ganzen Haus. Danke, daß Du versucht hast, mich zu schützen. Ich übernehme das jetzt. Du kannst Dich bestimmt anderswo nützlich machen.«
Valerie Hagestolz-Böhm sah aus, als wolle sie widersprechen, aber etwas in der Stimme des Patriarchen hielt sie davon ab. Mit einem gemurmelten »Ja, ich habe noch zu tun« entfernte sie sich.
»Kommissar, ich freue mich, Sie kennenlernen zu dürfen. Wie geht es Ihnen?«
Torsten schüttelte die dargebotene Hand und registrierte verwundert die Kraft des Händedrucks. Er nahm sein Gegenüber genauer in Augenschein. Auch dieses Gesicht erschien alterslos. Allerdings wirkte es natürlicher als die Züge der Dame eben. Die moosgrünen Augen strahlten und er hielt sich mit einer Spannkraft aufrecht, die er einem – wie alt mochte er sein? Sicher Achtzig – jährigem nicht zugetraut hätte.
»Herr von Hagestolz, die Ehre ist auf meiner Seite. Ich freue mich, daß Sie Zeit für mich finden.«
»Valerie versucht, unangenehmes von mir fernzuhalten, aber ich habe gehört, daß Herr Hartung vermißt wird. Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen. Er wirkte etwas derangiert, als ich ihn zuletzt sah.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Vorgestern Abend auf unserem Empfang. Ich rede mit all meinen Gästen, auch wenn ich nicht weiß, wer ihn eingeladen hat.«
»Er war ohne Einladung hier?«
»Sicher nicht. Dann hätte man ihn nicht hereingelassen. Ich meine nur, daß er nicht auf der Gästeliste stand, als ich sie zuletzt gesehen habe. Jemand muß ihn nachträglich hinzugefügt haben.«
»Was meinten Sie mit derangiert?«
»Ich möchte den Herrn nicht kompromittieren.«
»Ich verstehe.«
Torsten blickte sein Gegenüber fragend an und tatsächlich fügte der nach kurzem Nachdenken noch etwas hinzu.
»Er hat in kurzer Zeit sehr viel gegessen und getrunken. Möglicherweise ist ihm das nicht bekommen. Zuletzt eilte er in Richtung der sanitären Örtlichkeiten.«
»Haben Sie ihn danach noch gesehen?«
»Leider nein. Ich hätte die Unterhaltung gern vertieft. Der junge Mann war … vielversprechend.«
Ihre Cousine erwähnte eine Hanna. Vielleicht weiß sie mehr.«
»Hanna Marquess ist meine Großnichte. Sie wohnt nicht hier, aber wenn Sie mir Ihre Karte überlassen, sorge ich dafür, daß sie sich bei Ihnen meldet.«
»Das ist sehr freundlich.« Torsten reichte ihm seine Visitenkarte. Ihre Hände berührten sich kurz und der andere klopfte ihm mit der anderen Hand wie beiläufig auf den Ellenbogen.
»Und jetzt habe ich zu tun. Sie haben bestimmt keine Fragen mehr an mich. Fahren Sie jetzt zurück. Sie finden allein hinaus.«
Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte er plötzlich gebrechlich und man sah ihm sein Alter an. Dann fing er sich wieder und verließ rasch den Raum.
Torsten ging wortlos nach draußen, nahm sein Rad, schob es zurück ums Haus und die Einfahrt entlang. Der Torflügel schwang auf und er fand sich auf der Straße wieder.
Was war das gerade? Ich hätte nachhaken müssen, aber ich bin einfach grußlos gegangen.
Aus dem Augenwinkel sah er einen Hund über die Straße laufen, aber als er hinblickte, war dieser schon verschwunden. Kopfschüttelnd setzte er sich auf sein Rad und fuhr in Richtung Stadt.
Wie er zurück zum Polizeipräsidium gekommen war, hätte er später nicht erklären können. Er schreckte hoch, als er ein lautes Fingerschnippen hörte und jemand einen Kaffeebecher mit einem leisen Knall vor ihm auf dem Tisch absetzte, und blickte in die Augen seines neuen Helfers.
»Sie sehen aus, als könnten Sie den brauchen.« Max’ Lächeln war kaum wahrnehmbar.
»Wie … wie lange sitze ich schon hier?«
»Nur ein paar Minuten. Sie sahen müde aus, als Sie zurückkamen. Wie ist die Befragung gelaufen?«
»Wenn ich das wüßte. Ich habe mit Alasdair von Hagestolz gesprochen. Er hat mit dem Vermißten geredet und ihn zuletzt auf dem Weg zu den Toiletten gesehen. Er wollte das Gespräch mit ihm vertiefen … hat er zumindest gesagt. Dann hat er mich weggeschickt.«
»Sie haben sich wegschicken lassen?«
Torsten trank einige Schlucke aus dem Becher. Das Getränk war kein Kaffee, aber es belebte ihn.
»Ja, seltsam was?«
»Trinken Sie noch etwas. Wenn Sie ausgetrunken haben, wird Ihnen besser gehen.«
»Was ist das?«
»Eine spezielle Kräutermischung mit Honig.«
»Die haben Sie einfach so dabei. Was bewirkt sie?«
»Sie schmeckt gut und entspannt. Mir schien, daß sie das jetzt brauchen.«
Torsten trank den letzten Schluck und fühlte sich tatsächlich erfrischt. Seine Konzentration kehrte zurück und mit ihr die Fragen.
»Was zur Hölle ist mit mir passiert? Ich erinnere mich nicht, wie ich zurückgekommen bin. Ein Wunder, daß ich keinen Unfall mit dem Rad gebaut habe.«
»Was ist das letzte, an das Sie sich erinnern?«
»Ich habe dem alten von Hagestolz meine Visitenkarte gegeben. Dann hat er mich irgendwie komisch angefaßt und gesagt, ich solle gehen.«
»Was hat er genau gesagt?«
»Ich … ich … weiß es nicht. Ich wollte ihn noch etwas fragen, aber mir ist plötzlich nichts mehr eingefallen. Da erschien es mir ganz natürlich, zu gehen.«
Beide schwiegen für eine Weile, aber in Torsten arbeitete es sichtbar. Schließlich hieb er mit der Faust auf den Tisch, daß der Löffel im Becher leise klirrte.
»Verdammt will ich sein. Ich dachte immer, ich wäre gegen Hypnose Immun. Vor allem wundere ich mich, wie schnell er das geschafft hat.«
»Geben Sie Blitzhypnose in die Suche ein. Ich denke, das erklärt es.«
Torsten tippte eine Weile auf seiner Tastatur herum. Dabei wurden seine Augen immer größer. Schließlich schüttelte er heftig den Kopf. Dann winkte er Max herbei und streckte die Hand aus.
»Torsten.«
»Max.«
»Okay«, Torsten blickte auf die Uhr, »nachdem das geklärt wäre, machen wir für heute Feierabend. Was machst Du noch?«
»Essen kaufen!«
»Witzbold. Vorher kommst Du mit mir. Ich habe etwas für Dich.«
»Okay?«
»Wir treffen uns um 19 Uhr am Leibnizplatz.«
»Okay.«
Max erhielt keine Antwort auf die nicht gestellte Frage. Sie räumten ihre Sachen zusammen, verließen gemeinsam das Büro und gingen wortlos über das Gelände. Vor dem Haupteingang trennten sich ihre Wege. Max ging stracks in Richtung Straßenbahn und Torsten bog zum Fahrradständer ab.
Als Max am Leibnizplatz pünktlich um Sieben eintraf, erwartete Torsten ihn bereits. Er nickte ihm zu, deutete dann in eine Richtung und Max trottete gehorsam neben ihm her.
Torsten war zwar mit dem Fahrrad erschienen, schob es aber einfach nur. Die tiefstehende Sonne warf lange Schatten und ein kühler Wind strich durch die Seitenstraßen mit den Altbremer Häusern.
An einem Imbiß stoppten sie kurz und Torsten kaufte zwei Döner.
»Damit kannst Du öffentlich auftreten.« Er staunte immer noch über die Geschwindigkeit, mit der Max sein Essen vertilgte. Er selbst hatte nur einige Bissen geschafft, da hatte Max seine Tüte schon leer gegessen. »Du kannst den Rest von meinem auch noch haben, wenn Du magst.«
»Mmmhh …«
Kopfschüttelnd verfolgte er den Rest des Mahls. Max ließ lediglich ein Stück Brot übrig.
Danach gingen sie weiter.
»Warte hier.«, sagte Torsten, als sie vor seinem Haus ankamen. Er schob sein Rad in den Hausflur, verschwand kurz in seiner Wohnung und kehrte mit zwei gut gefüllten, großen Plastikbeuteln zurück, die er Max reichte.
»Die sind für Dich. Václav ist nicht ganz so groß wie Du, aber ihr habt die gleiche Figur. Er wird seine Sachen nicht mehr abholen und solange sie bei mir liegen, vergiften sie meine Gedanken.«
»Das kann ich nicht annehmen.«
»Natürlich kannst Du. Ich tue das ganz eigennützig. Nun nimm schon. Nur waschen mußt Du sie selbst. Bei mir sind sie ziemlich eingestaubt.«
Max bedachte Torsten mit einem langen Blick. Dann nickte er ihm zu, nahm die Beutel, drehte sich um und zog wortlos ab.
3. Kapitel (Di)
Torsten fühlte sich viel besser, als er am nächsten Morgen aufstand. Gut, daß der Vodka alle war. Der frische Salat, den er sich vor dem Schlafengehen noch zubereitet hatte, tat ihm gut und kaum, daß er im Bett lag, schlief er auch schon.
So betrat er schon um halb Neun das Präsidium. Auf dem Flur traf er Peter.
»Gute Arbeit, Torsten!«, begrüße der ihn.
»Du kennst doch meinen Bericht noch gar nicht.«
»Das muß ich nicht. Ich hatte heute morgen keine Beschwerde auf meinem Schreibtisch und keinen Polizeipräsidenten in der Leitung. Irgendwas mußt Du also richtig gemacht haben.«
»Du mich auch.«
Torsten ließ seinen Vorgesetzten stehen und marschierte zu seinem Büro. Dort traf er Max, der gerade vor einem großen Stapel belegter Brote saß.
»Mahlzeit.«
»Mmh…mmh.«
»Die neuen Sachen stehen Dir.«
»Dan…ke.«
Max schluckte den letzten Bissen hinunter. Er trug tatsächlich ein T-Shirt und eine Jeans von Václav und wirkte so wesentlich ordentlicher als am Vortag. Auch der Geruch nach nassem Hund hatte sich zugunsten eines leichten Zitronenaromas verflüchtigt.
»Wo hast Du eigentlich meine Akten hingeräumt?« Torsten blickte entgeistert auf seinen leeren und blitzsauber gewischten Schreibtisch.
»Dorthin.« Max deutete auf den Metallschrank für die Hängeregistraturen.
»Bist Du verrückt? Die Papiere waren säuberlich geordnet! Wie soll ich jetzt …«
Torsten wollte aufspringen, als sein Blick auf den Desktop seines Rechners fiel. »Wieso ist der an? Was ist …«
Auf dem Desktop befanden sich eine Reihe neuer Ordner mit Namen wie ‘offene Fälle’, ‘geschlossene Fälle’, ‘Notizen’, ‘Faxe’ und ‘Privat’.
»Warst Du das?« Max nickte. »Woher zur Hölle kennst Du mein Paßwort?«
»Das klebte an Deinem Bildschirm.« Max hielt ein Post-it hoch und biß seelenruhig in das nächste Brot. »Ich bin schon zwei Stunden hier und habe in der Zwischenzeit Deine Unterlagen gescannt und sortiert.«
Als er sah, daß sein Gegenüber kurz davor war, ihn anzuschreien, fügte er noch ein »Ich hole Dir einen Kaffee.« hinzu und verließ den Raum mit verblüffender Geschwindigkeit, nicht ohne das angebissene Brot mitzunehmen.
Torsten blieb heftig atmend zurück. Was bildet dieses Kind sich ein? Er soll mich entlasten und nicht meine Ordnung durcheinanderbringen!
Testweise klickte er auf den Ordner ‘offene Fälle’. Darunter befanden sich mehrere Unterordner. Unter ‘Johan Hartung’ stieß er auf die chronologisch geordnete Liste der bisherigen Unterlagen zum Fall. In einige PDFs hatte Max Kommentare eingefügt, teilweise mit Fragen, die sich Torsten auch gestellt hatte. Der Provider von Hartungs Handy schrieb, daß das Telefon zuletzt in Borgfeld eingebucht war und seit dem frühen Sonntagmorgen ausgeschaltet sei.
Als letztes fand er ein Textdokument mit einer Zusammenfassung dessen, was er Max von der Befragung am Vortag erzählt hatte. Als dieser mit zwei Bechern zurück kam und einen vor Torsten auf den Tisch stellte, klickte der sich zunehmend fasziniert durch die anderen Ordner. Am längsten verweilte er unter ‘Notizen’, in dem sich handschriftlich gefüllte Zettel befanden.
»Die habe ich alle dort abgelegt, weil ich Deine Schrift nicht so gut lesen kann.«
»Warst Du in einem früheren Leben Diplomat?« Torsten lachte auf. »Ich kenne meine Klaue. Meine Güte, den Zettel suche ich seit Tagen. Wo hast Du den gefunden?«
»Den?« Max warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm. »Der klebte unter der Tastatur. Zu viel Zucker im Kaffee ist ungesund.«
»Okay. Ich denke, ich kann damit leben. Trotzdem wirst Du mich beim nächsten Mal vorher fragen, verstanden?«
»Klar.« Max setzte sich wieder an seinen Platz und griff zum nächsten Brot. »Wasch machn wir heude?« nuschelte er zwischen zwei Bissen.
»Zunächst wirst Du mir mehr über den inoffiziellen Teil Deiner Recherchen im Fall Hartung erzählen.«
»Moment«, Max klickte an seinem Rechner einige Male mit der Maus und schrieb einige Anschläge auf der Tastatur, »jetzt sieh auf Deinen Desktop.«
Torsten fixierte den Bildschirm, auf dem in diesem Augenblick eine neue Verknüpfung namens ‘Top Secret’ erschien.
Das gefällt mir nicht. Ich muß unbedingt mein Paßwort ändern!
Er öffnete den Link. Der zugehörige Ordner enthielt Fotos einer Reihe alter Zeitungsausschnitte. Der Jüngste von 1979 stammte aus den Bremer Nachrichten und erregte sofort Torstens Aufmerksamkeit.
‘Senatorensohn vermißt!
Wie uns die Polizei erst heute mitteilte, wird bereits seit mehr als einer Woche der 28-jährige Alexander Timpe vermißt. Der Sohn der Bildungssenatorin wurde zuletzt auf einer Party in der Nobeldisco “Radscha” gesehen. Für Hinweise, die zum Auffinden von Alexander Timpe führen, haben die Eltern eine Belohnung von 5.000 DM ausgesetzt.’
Das Foto dazu erschien ihm vage bekannt, verriet aber durch das grobe Raster zu wenige Details.
»Das ist ja ziemlich genau vierzig Jahre her.«
»Fast auf den Tag genau.«, bekräftigte Max.
Torsten sah die weiteren Ausschnitte durch. 1938 in den Bremer Nachrichten mit Weser Zeitung, 1860 und 1899 wieder in den Bremer Nachrichten’ sowie einige noch ältere Quellen. Immer ging es um mehr oder weniger prominente junge Männer, die vermißt wurden.
»Du willst doch nicht sagen, daß es da einen Zusammenhang gibt?« Torsten warf einen strengen Blick auf Max, der die Augen senkte und schwieg. »Wo hast Du die Zeitungsausschnitte überhaupt her?«
»Auf einem Dachboden … gefunden.«
»Weiß der Hauptkommissar davon?«
»Nein.« Max folgte einer Fliege an der Fensterscheibe mit seinem Blick.
»Warum nicht?«
»Das mußte ich nicht. Er war von Anfang an der Meinung, daß nur Du diesen Fall lösen kannst. Ich habe ihn nur darin bestärkt und mich ins Spiel gebracht.«
»Ja, ja, seine Beweggründe kenne ich.« Torsten stutzte. »Moment, Du hast Dich ins Spiel gebracht? Was ist denn mit Deinen Beweggründen?«
»Ja.« Max’ Gesichtsfarbe verdunkelte sich um einige Nuancen. Er knetete seine Hände eine kleine Weile unter dem Tisch. Torsten wartete geduldig, bis er weitersprach. »Es war meine Chance, endlich richtige Polizeiarbeit zu machen. Deswegen bin ich hier.«
»Max, die ganze Geschichte bitte.«
Sein Gegenüber sank ob des kalten Tonfalls auf seinem Stuhl zusammen. Kurz sah es so aus, als würde er die Fassung verlieren. Dann sagte er noch leiser, so als würde er ein Selbstgespräch führen: »Ich arbeite eigentlich im hausinternen Botendienst.«
»Warst Du jemals auf der Polizeischule?«
»Ich habe die Aufnahmeprüfung nicht geschafft. Ich bin nicht … sportlich genug.«
Max’ Stimme war jetzt kaum noch zu hören. Mit hochrotem Kopf saß er da wie ein Häufchen Elend.
Torsten unterdrückte energisch den Impuls, ihn in den Arm zu nehmen und zu trösten. Er sollte einfach eine vermißte Person finden und dieser Junge hatte seine Nachforschungen gerade unnötig verkompliziert. Was stellte er sich vor, wie die Arbeit hier ablief? Mit diesen alten Zeitungsausschnitten konnte man jedenfalls nichts anfangen. Das hier war ein Fall aus der Gegenwart und er würde diesen Johan Hartung bald ausfindig machen, ihn am Schlafittchen packen und bei seiner Mutter für das fällige Donnerwetter abliefern.
Er schluckte seinen Ärger hinunter – allzuviel war es nicht – und bemühte sich um einen sachlichen Tonfall.
»Max, Du mußt doch verstehen, daß das so nicht geht. Ich muß hier professionell arbeiten und dazu brauche ich Mitarbeiter, die für ihren Job auch qualifiziert sind.«
Sein Gegenüber nickte kaum wahrnehmbar. Dann hob er den Kopf und sah ihm ins Gesicht. In seinen Augen standen Tränen.
»Paß auf, wir machen einen Deal. Ich will Dir nicht schaden. Du hast schließlich nichts Böses gewollt. Ich werde also das, was hier gestern und heute passiert ist, unter der Decke halten. Ich erwarte aber, daß Du ab morgen wieder beim Botendienst arbeitest.«
»Aber der Hauptkommissar …«
»Ich rede mit ihm. Er wird das verstehen.«
Max zog ein überdimensionales Stofftaschentuch aus der Tasche seiner Jeans und schnaubte geräuschvoll hinein.
»Danke«, flüsterte er kaum hörbar.
»Und jetzt nimm Dir den Rest des Tages frei. In dieser Verfassung bist Du für niemanden eine Hilfe.«
Wortlos stand Max auf, griff seine Tasche und stopfte das letzte Brot hinein. Dann schlich er mit eingezogenem Kopf aus dem Büro.
Torsten griff zum Hörer und wählte eine Nummer.
»Hausverwaltung?«
»Jäger, Kripo Bremen, Guten Tag. Sie verwalten doch die Wohnanlage Grollander Grün?«
»Stimmt, womit kann ich helfen?«
»In einem Ihrer Apartments wohnt ein Johan Hartung. Er wird seit einigen Tagen vermißt. Ich möchte mir seine Wohnung ansehen.«
»Ah, das stand in der Zeitung. Bei uns ist das also.«
»Ich bin in einer halben Stunde vor der Anlage. Ich benötige jemanden mit einem Generalschlüssel.«
»Ich kümmere mich darum. Wie war noch Ihr Name?«
»Torsten Jäger, Kriminalpolizei. Bis gleich.«
Ich nehme besser den Wagen. Das Erlebnis gestern reicht mir.
Er legte auf und saß noch für einige Minuten dumpf brütend vor seinem Rechner. Bevor er den Ordner schloß und den Rechner sperrte, druckte er einen der Scans aus, faltete ihn zusammen und steckte ihn in seine Jacke.
Er ging spazieren. Um ihn herum befanden sich die wuchtigen Mauern des Kreuzgangs, die die Gartenanlage begrenzten. Ein Rosenstock wuchs an der Apsis der Kirche. Er ging dort hin und betrachtete, wie er über ein Dutzend Meter Höhe, die die halbrunde Mauer hochwuchs. Wie alt mochte er sein? Fünfhundert Jahre? Er erinnerte sich, daß er den Stock früher schon gesehen hatte, als er noch viel kleiner war. Er brach eine der Blüten und roch daran. Ein schwacher, feiner Duft mit einer leichten Note von Vanille. Früher hatte man aus den Blütenblättern Rosenöl gekocht. Heute diente der Strauch nur noch als Touristenattraktion.
Ein hoher Pfeifton weckte ihn. Johan Hartung richtete sich in seinem Bett auf und suchte nach der Quelle des Störgeräusches. Erst nach einiger Zeit ging ihm auf, daß der Lärm nur in seinem Kopf stattfand. Dieser verfluchte Tinnitus! Gegen besseres Wissen hielt er sich die Ohren zu und sah sich um.
Er befand sich in einem nicht allzu hohen Raum, der geschmackvoll tapeziert war. Wilde Rosen rankten die Wände empor, so gut gezeichnet, daß sie beinahe dreidimensional wirkten. Die kleinen, vergitterten Fenster unter der Decke ließen auf Keller oder Souterrain schließen. Draußen schien die Sonne und schickte ihre Lichtfinger bis auf den Fußboden vor seinem Bett.
Wo war er hier. Das letzte, an das er sich erinnerte, war der Empfang, auf den man ihn eingeladen hatte. Gutes und reichliches Essen. Die spöttischen Augen einer Frau. Wie hieß sie noch? Ah, Hanna! Ein Anruf. Natürlich Mama, die ihm Vorhaltungen machte. Übelkeit. Er ging zu den Toiletten und dann? Schwärze. Jetzt war er hier aufgewacht.
Er schwang die Beine aus dem Bett und wollte zur Tür gehen, die sich in einigen Metern Entfernung an der gegenüberliegenden Wand befand. Ein lautes Klirren und ein schmerzhafter Ruck an einem Fußgelenk und er fand sich auf dem Fußboden liegend wieder.
»Verflucht! Was …«
Jetzt entdeckte er das Fußeisen, das um seinen Knöchel lag und dessen Kette zu einem dicken Stahlring führte, der in die Wand eingelassen war. Mit einer Verwünschung, die einem Gangsta-Rapper alle Ehre gemacht hätte, richtete er sich wieder auf und stellte sich auf seine Beine, die sich überraschend wackelig anfühlten.
»Hallo! Ist hier jemand? Hey! Hört mich einer?«
Er mußte nicht lange rufen. Geräusche hinter der Tür verrieten, daß sich jemand näherte. Gespannt blickte er auf die sich öffnenden Türschlitz, aber die Person, die hindurch kam, kannte er nicht. War das ein Wachdienst?
»Sie können Alasdair sagen, daß ich wieder wach bin und daß es mir gut geht. Bitte machen Sie mich jetzt los.«
»Wer ist Alasdair?«
»Ist er nicht da? Wo bin ich dann? Warum bin ich hier?«
»Sie hatten einen kleinen Unfall und benötigten unsere Hilfe.« Die Miene des schwarz gekleideten Herren ließ keine Rückschlüsse zu, wie er das meinte.
»Sie können mich jetzt wieder losmachen. Bitte! Ich bin wach und es geht mir gut.«
»Das werde ich nicht tun.«
»Warum nicht? Bin ich hier gefangen?«
»Selbstverständlich nicht. Sie benötigen einige Tage Ruhe und eine spezielle Therapie. Dann können Sie wieder nach Hause.«
»Ich bin in einer Klinik? Wohin hat man mich gebracht? Dr. Heines oder Joseph Stift?«
»Zunächst müssen Sie etwas essen. Sie waren einige Tage bewußtlos.«
Der Mann, der seine Fragen ignorierte, verschwand kurz im Türrahmen und kehrte dann mit einem Tablett zurück, auf dem je eine Flasche Wasser und Wein sowie zwei Gläser und ein großer Teller mit Abdeckhaube standen. Als er die Haube anhob, verbreitete sich der Duft von frisch gebratenem Fleisch im Zimmer und Johan Hartung erkannte, wie groß sein Hunger war.
Die Türe seines Zimmers – oder besser seiner Zelle – schloß sich und Johan nahm an dem Tisch Platz, auf den der Wachmann – oder was auch immer er war – das Tablett gestellt hatte. Seine Kette reichte genau bis hierhin. Gierig aß er, was er auf dem Teller fand. Das Essen schmeckte ausgezeichnet, ebenso wie der Pomerol. Seine Wärter wußten zumindest zu leben. Nur das Wasser besaß einen undefinierbaren Nachgeschmack.
Wie lange war er schon hier? Einige Tage hatte der Wachmann gesagt. Warum erinnerte er sich an nichts? Hatte man ihn mit dem Essen vergiftet, um ihn hierher zu verschleppen, wo immer das war? Seine Gedanken verwirrten sich und eine lähmende Müdigkeit ergriff Besitz von seinem Körper. Er schaffte es gerade noch bis ins Bett zurück, ehe seine Beine nachgaben. Kraftlos lag er auf der Decke.
Das letzte, was er sah, ehe er wegdämmerte, war, daß sich die Tür öffnete und jemand hineinkam, der nach Pfleger aussah. Er schob einen Infusionsständer vor sich her, an dem eine ganze Reihe Flaschen baumelten.
Johan Hartungs Wohnung war sicher teuer eingerichtet. Der etwas wahllosen Zusammenstellung der Möbel entnahm Torsten aber, daß hier jemand noch nicht zu seinem Stil gefunden hatte. Er öffnete alle Räume, um sich einen Überblick zu verschaffen, und fand erwartungsgemäß niemanden vor.
»Geben Sie mir ein paar Minuten«, sagte er zu dem Angestellten der Hausverwaltung, der ihn am Eingang der Anlage erwartet und hierher geführt hatte. »Es wird nicht lange dauern.«
»In Ordnung. Ich warte hier so lange.«
Dann sah er sich genauer um. Die Plastikblumen auf den Fensterbänken hatte schon länger niemand mehr abgestaubt. Die juristische Fachliteratur im Arbeitszimmer sah aus wie frisch gekauft, ebenso der protzige Gaming-Laptop auf dem Schreibtisch.
Torsten schaltete ihn ein. Beinahe ohne Zeitverzögerung erschien der Bildschirm mit der Pin-Abfrage.
Na, einige Versuche habe ich wohl frei.
Er tippte aufs Geratewohl ‘1234’ ein. Zu seiner größten Überraschung wurde er sofort auf den Desktop weitergeleitet.
Herrje, der Vermißte ist wohl ein schlichteres Gemüt.
Mit wenigen Mausklicks verschaffte er sich einen Überblick über die Laufwerke. Kopfschüttelnd zog er anschließend sein Handy aus der Tasche und rief seinen Vorgesetzten an.
»Held, Kriminalpolizei?«
»Ich bins, Peter. Ich bin gerade Hartungs Wohnung. Hier steht ein Laptop mit Paßwort ‘1234’ und unverschlüsselten Laufwerken.«
»Nicht Dein Ernst?«
»Doch. Meine Frage wäre: Soll ich ihn mitnehmen, damit wir ihn nach Anhaltspunkten auf Hartungs Verbleib untersuchen können? Wir haben schließlich keine Gefahr im Verzuge und er ist erst zwei Tage verschwunden.«
»Keine Gefahr im Verzuge? Guter Witz. Ich habe gerade mit seiner Mutter gesprochen. Sie sagt, wir sollen Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Bring alles mit, was uns irgendwie weiterhelfen kann. Sie hat bereits nach Deiner Nummer gefragt und will Deine Arbeiten beschleunigen.«
»Dann packe ich ihn ein und sehe mich nach Notizblöcken et cetera um. Vielleicht hatte er an dem Abend noch eine Verabredung. Um den Durchsuchungsbeschluß kümmerst Du Dich?«
»Bis Du zurück bist, hast Du ihn auf Deinem Tisch.«
Torsten legte auf und sah sich weiter um, fand aber in der gesamten Wohnung weder Papier noch einen Stift. Im Schlafzimmer stand er kopfschüttelnd vor einem großen Haufen gebrauchter Unterwäsche und sonstiger Kleidung, die wild durcheinandergeworfen waren.
Abschleppen wollte er in dieser Nacht definitiv niemanden. Zumindest nicht zu sich nach Hause.
Er durchsuchte die Taschen der Hosen nach Hinweisen. Außer gebrauchten Taschentüchern fand er aber nichts und war dabei froh, daß er Handschuhe anhatte.
»Den Laptop muß ich mitnehmen«, sagte er zu dem Hausmeister, der ihm die Wohnung aufgeschlossen hatte und reichte ihm seine Visitenkarte. »Schreiben Sie mir bitte eine Mail. Sie erhalten dann von mir einen Scan des Durchsuchungsbeschlusses, der gerade ausgestellt wird.«
»Danke.« Der Mann wirkte erleichtert.
»Bekommen Sie oder Ihre Kollegen eigentlich mit, ob Herr Hartung Besuch empfängt, Freundinnen, Kommilitonen oder so?«
»Ich habe noch nie jemanden bei ihm gesehen. Außer seiner Mutter natürlich«, setzte der Wachmann schnell hinzu. »Die kommt regelmäßig. Ansonsten lebt er wie ein Einsiedler.«
»Würden Sie auch Ihre Kollegen fragen?«
»Selbstverständlich, Herr Kommissar.« Der Mann nahm den Ausdruck von Hartungs Paßbild entgegen, das Torsten ihm gab und wandte sich dann zum Gehen.
»Wissen Sie, ob Herr Hartung einen Festnetzanschluß besitzt?«, rief Torsten ihm hinterher.
»Ich glaube nicht. Die Kabel liegen zwar, aber die Wohnanlage besitzt ein leistungsfähiges zentrales Wi-Fi, das alle Bewohner benutzen können. Niemand macht sich die Mühe, noch etwas Eigenes anzumelden. Falls Sie mich nicht mehr brauchen, würde ich jetzt gerne …«
»Gehen Sie schon. Ich finde allein hinaus.«
»Danke, Herr Jäger. Ziehen Sie einfach die Tür ins Schloß, wenn Sie gehen.« Der Hausmeister machte kehrt und entfernte sich.
Torsten nahm sein Smartphone und fotografierte Teile der Wohnung. Die Bilder würden nützlich sein, falls er ein Profil des Verschwundenen erstellen mußte. Anschließend stöpselte er den Laptop aus und legte ihn zusammen mit seinem Zubehör in einen überdimensionalen blau-gelben Einkaufsbeutel, die er in der Küche neben diversen abgegessenen Tellern fand.
Als er mit den beschlagnahmten Gegenständen die Wohnung verlassen wollte, prallte er im Eingang mit einer Dame zusammen, die gerade dabei war, die Türe von außen aufzuschließen.
Bevor er sie genauer in Augenschein nehmen konnte, zog sie bereits ihr Telefon und hielt es ans Ohr.
»Sieh an, ein Einbrecher. Habe ich Sie auf frischer Tat ertappt, wie es aussieht, was?« Sie warf einen vielsagenden Blick auf seine Tasche, aus der eine Ecke der Tastatur herausragte. »Dann wollen wir mal die Polizei rufen. Kommen Sie nicht auf den Gedanken, sich zu entfernen. Ich kann nämlich Karate!«
»Das wird nicht nötig sein.« Torsten zückte seinen Dienstausweis. »Sie sind Herrn Hartungs Mutter, vermute ich?«
»Ah, dann sind Sie bestimmt ein Assistent von Hauptkommissar Held.« Sein »Nein« und den Ausweis nicht zur Kenntnis nehmend, redete sie einfach weiter. »Man muß nur hoch genug in der Hierarchie ansetzen, hat schon mein Mann, Gott hab’ ihn selig, immer gesagt. Sonst macht man den Leuten keine Beine …«
Torsten setzte seine Tasche ab und nutzte die Zeit, in der sie weiterplauderte, um die Dame vor sich genauer in Augenschein zu nehmen. Sie hatte die Sechzig bereits überschritten und trug ihr weißes Haar straff nach hinten gekämmt und am Hinterkopf zu einem Dutt aufgetürmt. Wasserblaue Augen mit langen, künstlichen Wimpern, die Helmut Kohl alle Ehre gemacht hätten und ein ausführliches Make-up verdeckten ihr Gesicht mehr, als daß sie den Blick zum Rasten einluden. Strenge Falten um ihre Mundwinkel verrieten aber, daß sie wohl nicht oft lachte und auch das graue Kostüm mit den violetten Applikationen wirkte alles andere als heiter und beschwingt.
»… und für das da haben Sie sicherlich einen Durchsuchungsbefehl dabei?«, beendete sie ihre Ausführungen und wies auf den Inhalt der Tasche.
»Mit Verlaub, dürfte ich bitte zunächst Ihren Ausweis sehen?«
Torstens Tonfall war wohl etwas scharf geraten, denn die Dame zuckte zusammen, ehe sie ihn mehr überrascht als zornig anblickte.
»Das ist nicht Ihr Ernst? Jeder Mensch in dieser Stadt kennt mich!«
»Wir wurden uns noch nicht vorgestellt, also wenn ich bitten darf?«
»Hier.« Sie zog ein Portemonnaie wie einen Colt aus ihrer echsenledernen Handtasche, klappte es auf und zückte ihre Ausweiskarte.
Torsten studierte sie kurz. »Danke, Frau Kassandra Hartung«, sagte er.
»Hartung vom Donnerbach bitte. So viel Zeit muß sein!«
»Wie Sie wünschen, Frau Hartung vom Donnerbach.« Torsten mußte sich ein Lächeln verkneifen. »Der Durchsuchungsbeschluß liegt übrigens auf meinem Schreibtisch im Präsidium. Es sah nicht so aus, als würde er benötigt werden und der Hauptkommissar hat mir nahegelegt, mich mit meinen Ermittlungen möglichst zu beeilen. Wenn Sie wünschen, bringe ich die Sachen zurück in die Wohnung und gehe den Beschluß holen. Dann wird heute aber vermutlich nicht mehr viel geschehen.«
»Schon gut, schon gut«, antwortete sie fahrig. »Was erwarten Sie denn auf seinem Rechner zu finden? Ihnen ist sicherlich klar, daß Sie nicht ohne weiteres Zugriff darauf nehmen können. Mein Sohn ist immerhin studiert und ein absoluter IT-Profi.«
»Glücklicherweise beschäftigen wir ebenfalls IT-Profis«, erwiderte Torsten mit feinem Lächeln. »Wir schaffen das schon.«
»Dann will ich Sie nicht weiter aufhalten.« Sie machte Anstalten, an ihm vorbei in die Wohnung zu gehen.
»Einen Augenblick noch«, hielt Torsten sie auf. »Weswegen sind Sie eigentlich hier?«
»Ich bin seine Mutter. Ich brauche keinen Grund!«, antwortete sie, um nach kurzem Zögern doch noch eine Erklärung hinzuzufügen: »Ich hole seine Wäsche. Diese Wäscherei, in die er seine Sachen bringt, … sauber mag die Kleidung ja nach dem Waschen sein, aber vom Hemdenbügeln haben die keine Ahnung.«
»Viel Spaß.« Torsten dachte mit leisem Grausen an die schmutzigen Haufen in der Wohnung. »Aber wo wir uns hier gerade so schön unterhalten, würde es Ihnen etwas ausmachen, mir mit eigenen Worten zu berichten, was Sie dazu bewogen hat, nur wenige Stunden nach seinem Verschwinden Ihres Sohnes bereits eine Vermißtenanzeige zu erstatten?«
»Weil ich seine Mutter bin und er unser gemeinsames Mittagessen am Sonntag noch nie hat ausfallen lassen!« Sie runzelte dabei die Stirn, als hätte Torsten ihr einen unsittlichen Antrag gemacht.
»Die Möglichkeit, daß er seinen Rausch ausgeschlafen hat oder vielleicht für einige Tage weggefahren ist, haben Sie nicht in Betracht gezogen?«
»Haben Sie Kinder?«, entgegnete sie scharf, wartete seine Antwort aber nicht ab. »Eine Mutter spürt es, wenn ihr Kind sie braucht. Er hat sich bereits bei unserem Telefonat am Vorabend seltsam verhalten.«
»Warum seltsam? Davon stand nichts in Ihrer Aussage.«
»Weil Ihre Schreibkraft mir nicht richtig zugehört hat, deshalb.«
»Ich entschuldige mich für diese Nachlässigkeit. Würden Sie es mir bitte noch einmal erzählen, damit ich es Ihrer Aussage hinzufügen kann?« Torsten war sich noch nicht sicher, ob er das Gespräch amüsant finden sollte, oder anstrengend.
»Er hat sich nicht gemeldet. Er ruft mich sonst immer Punkt Zweiundzwanzig Uhr an, bevor er zu Bett geht. Daraufhin habe ich ihn angerufen.«
»Erinnern Sie sich, zu welcher Uhrzeit das war?«
»Zweiundzwanzig Uhr Fünf.«
Okay, ich glaube, das Gespräch wird anstrengend.
»Hat er sich gemeldet?«
»Nicht sofort. Er schien abgelenkt zu sein. Das kenne ich von ihm nicht, wenn wir telefonieren. Er war auf einem Empfang bei der Familie von Hagestolz. Ich fand das verwunderlich.«
»Wie ist er an diese Einladung gekommen?«
»Das ist ja das Seltsame. Normalerweise kümmere ich mich um solche Angelegenheiten, aber ich wußte davon nichts. Juckelchen … ähm … mein Sohn dachte auch, daß ich die Einladung organisiert habe, aber diesmal war ich es nicht. Die Familie von Hagestolz wählt sich sehr genau aus, wenn sie zu sich einladen und ich stehe leider nicht auf Ihrer Liste.«
»Eine Person Ihres Ranges? Wie konnte das passieren?« Torsten mußte sich ein Grinsen verbeißen.
»Mir ist das auch ein Rätsel. Seit mein Mann verstorben ist, riß der Kontakt urplötzlich ab. Ich habe Alasdair zuletzt auf Dieters Begräbnis gesehen und was soll ich Ihnen sagen, er hat mir nicht einmal mehr kondoliert! Wie finden Sie das?«
»Was für ein unhöflicher Mensch!«
Im nächsten Augenblick hoffte Torsten, daß seiner Gegenüber das Zucken um seine Mundwinkel entgangen war.
»Ja, nicht? Ich habe wieder und wieder versucht, den Kontakt herzustellen, aber nicht eine einzige Antwort erhalten. Immerhin ist er … aber das geht Sie nichts an. Deswegen war ich ja so verblüfft, daß Juckel … mein Sohn eingeladen wurde.«
»Das kommt mir auch seltsam vor. Und er hat Ihnen nichts davon erzählt?«
»Nicht das Geringste. Dabei berichtet er sonst immer alles, das ihn bewegt. Ich hätte wenigstens erwartet, daß er mich mitnimmt. Stattdessen hat er mich aus der Leitung komplimentiert, weil er eine Dame zum Tanz auffordern wollte.«
Vielleicht hat er es ja deswegen nicht erzählt.
»Ist das ungewöhnlich für ihn?«
»Sogar sehr. Er trägt mich ansonsten auf Händen! Besonders seltsam fand ich übrigens, daß er sagte, daß er in der kommenden Woche ein Treffen mit dem alten Alasdair hätte. Das hätte er mir doch vorher erzählen können!«
»Das finde ich ebenfalls sehr ungewöhnlich.«
Torsten vermutete nur, daß sich seine Gründe von denen seiner Gesprächspartnerin unterschieden.
»Ach, Sie sind ja so ein charmanter Mann und Sie wissen, wie man sich gegenüber Höhergestellten verhält. Wären Sie so freundlich, mir Ihre Telefonnummer zu geben, damit ich mich von Zeit zu Zeit über den Fortschritt Ihrer Nachforschungen informieren kann?«
Torsten erstarrte innerlich. Das fehlte noch, daß er dieser Dame jetzt mehrmals täglich Bericht zu erstatten hatte!
»Das wäre aber nicht angemessen, Frau Hartung vom Donnerbach«, antwortete er stockend. »Ich stehe doch in der Rangfolge viel zu weit unten. Der Hauptkommissar gibt Ihnen sicher jede Auskunft, die Sie haben wollen.«
»So habe ich das noch gar nicht bedacht. Sie haben völlig recht!«
Mit diesen Worten betrat sie die Wohnung Ihres Sohnes und schlug die Türe hinter sich zu, ohne sich zu verabschieden.
Torsten lächelte und war froh, diese Kuh so einfach vom Eis bekommen zu haben. Derzeit warf diese Untersuchung noch mehr Fragen auf als sie beantwortete. Tief in Gedanken verließ er das Gebäude und betrat den Innenbereich. Der lag inmitten dreier Wohngebäude und bestand überwiegend aus einer kurz gemähten Rasenfläche, die von einem gepflasterten Weg umrahmt wurde.
Mitten auf der Wiese stand ein Hund, der Torstens Bewegungen interessiert verfolgte. Sein schwarz-weiß geflecktes Fell und die längliche Körperform erinnerten Torsten an eine Reportage über Hütehunde, die er kürzlich gesehen hatte. Als er spontan einige Schritte auf ihn zuging, setzte sich der Vierbeiner und blickte ihn dabei unverwandt an.
Torsten näherte sich bis auf einige Meter. Der Hund beobachtete ihn wachsam aus blauen Augen, wie Torsten wahrzunehmen meinte, und begann, vorsichtig mit seiner Schwanzspitze zu wedeln. Dann sprang er auf, lief davon und verschwand in einem Hauseingang.
Lächelnd ging Torsten zurück zu seinem Wagen. Er mochte Hunde, auch wenn ihm klar war, daß ihm in seiner derzeitigen beruflichen Situation nicht genügend Zeit für einen vierbeinigen Hausgenossen blieb. Er drückte auf eine Taste des Schlüssels, es klickte, er stieg ein und fuhr zurück ins Präsidium.
Den restlichen Tag verbrachte er in seinem Büro am Rechner. Er scannte den Durchsuchungsbeschluß, den er tatsächlich absprachegemäß auf seinem Schreibtisch vorfand, und leitete ihn an die Hausverwaltung von Hartungs Wohnanlage weiter.
Die neue Ordnung, die Max Waldgänger in seine Unterlagen gebracht hatte, gefiel ihm zunehmend gut. Sein Helfer hatte die digitale Kopie seiner Unterlagen so sortiert, daß er alles beinahe auf Anhieb fand, etwas an dem sein wirklicher Assistent Moritz immer kläglich gescheitert war, wenn er es denn einmal versuchte.
Woher zur Hölle weiß dieser Junge so genau, wie ich geistig sortiert bin? Er kann das doch nicht in mir gelesen haben.
Ganz ernst meinte er diesen Gedanken nicht, aber jene Ermittlung im vergangenen Jahr geisterte immer noch durch seine Gedanken. Da niemand eine rationale Erklärung für die Ereignisse geben konnte, die zum Tod von dreiundfünfzig Menschen geführt hatten, blieb für Torsten nur die unbefriedigende Erklärung, daß Paolo Costa möglicherweise wirklich paranormale Fähigkeiten besessen hatte.
Das konnte man in keinen Bericht schreiben, ohne das Risiko einzugehen, hinterher wieder Streife laufen zu müssen und natürlich hatte er das auch nicht getan. Er war seitdem aber offener geworden, und wenn sich Dinge nicht anders erklären ließen, bemühte er sich, seinen Geist frei von vorgefaßten Meinungen zu halten.
Besonders lange studierte er am Ende den Top Secret Ordner. Was, wenn an Max’ Überlegungen doch etwas dran war? Nur um diese Möglichkeit auszuschließen, sollte er sich bei der örtlichen Tageszeitung einmal umsehen.
Und wenn etwas dran ist, was mache ich dann?
Aber die Wahrscheinlichkeit war groß, daß er sich damit nicht befassen mußte. Bestimmt tauchte Johan Hartung in den nächsten Tagen wieder wohlbehalten auf und präsentierte ihnen eine plausible Erklärung für alles. Glücklicherweise geschah es nur selten, daß eine vermißte Person für alle Zeit verschwunden blieb.
Ich brauche einen Assistenten, verdammt noch mal! Ich kann nicht auf Dauer alles selbst erledigen. Peter hat leider recht. Ich werde ihn morgen fragen, ob er mir einen seiner eigenen Assistenten, am besten Klaus, für eine Weile überläßt.
Er schrieb eine Mail an den Caterer, der am vergangenen Wochenende den Empfang im Hause von Hagestolz verköstigt hatte, und bat darum, die an jenem Abend anwesenden Mitarbeiter kurzfristig für eine Befragung zur Verfügung zu halten. Danach führte er ein Telefonat mit der Tageszeitung und vereinbarte einen Termin mit der Leiterin des Archivs. Anschließend legte er das Telefon aber nicht weg, sondern holte einige Male tief Luft und wählte eine weitere Nummer.
Nach einer Weile wurde abgenommen und eine weibliche Stimme meldete sich.
»Hagestolz-Böhm?«
»Jäger, Kriminalpolizei.«
»Sie? Ich dachte, wir hätten Ihnen klargemacht, daß Ihre Anwesenheit in unserem Hause nicht erwünscht ist.«
»Das muß mir entgangen sein. Ich melde mich diesmal aber vorher an, denn ich muß Sie mit ein oder zwei Leuten besuchen, um Ihre Angestellten zu befragen.«
»Daß Sie sich anmelden, ist rücksichtsvoll von Ihnen. Heute geht es aber auf keinen Fall mehr. Herr von Hagestolz befindet sich in einer … medizinischen Behandlung, die auf keinen Fall unterbrochen werden darf. Danach geht er immer zu Bett.«
»Ich verstehe. Wie wäre es mit morgen?«
»Fünfzehn Uhr würde uns passen. Bis dahin kann ich auch alles Personal einbestellen, das am Sonnabend Dienst hatte. Hoffentlich können Sie die Befragung kurz halten. Wir sind derlei Störungen nicht gewohnt.«
»Fünfzehn Uhr also. Ich kann Ihnen versichern, daß auch ich nicht das Bedürfnis verspüre, mich bei Ihnen länger als nötig aufzuhalten.«
Torsten drückte fahrig die rote Taste. Glücklicherweise wurden auch bei ihnen vor einigen Monaten die Tischtelefone durch zeitgemäßere schnurlose Exemplare ersetzt, sonst hätte er wohl den Hörer aufgeknallt.
Anschließend beendete er seine Arbeit für den Tag und verließ das Präsidium. Den Dienstwagen ließ er stehen und stieg stattdessen auf sein Rad. Zwar war die Jahreszeit bereits fortgeschritten, aber der warme Fahrtwind und die Bäume, die noch voll im Laub standen, wirkten eher, als wäre es noch Hochsommer.
Er fuhr seine Lieblingsstrecke. Sie war zwar ein wenig länger, führte dafür aber durch eine Reihe von Grünanlagen auf den Fluß zu, dem er anschließend den Osterdeich entlang folgte.
Auf der Weserbrücke hielt er an, lehnte sich an das Geländer, schloß die Augen und badete sein Gesicht in den Strahlen der Sonne, die bereits tief über dem Häuserriegel des Teerhofs stand. Dabei ließ er den Tag Revue passieren.
Hatte er sich gegenüber Max korrekt verhalten? Definitiv ja, denn er erfüllte die formalen Anforderungen an einen Assistenten nicht. Wobei, falls das wirklich nur der mangelnden körperlichen Fitneß geschuldet war, sollte er das vielleicht nicht zu hoch hängen. Auch er selbst hatte den Sporttest seinerzeit nur um Haaresbreite bestanden. An Auffassungsgabe schien es Max jedenfalls nicht zu mangeln. Karriere würde er wohl nicht machen, aber als Assistent war er mehr als brauchbar gewesen.
Vor allem hat er mich auf andere Gedanken gebracht. Ich habe zwei Tage lang nicht an Václav gedacht und konzentriert gearbeitet. Ist das nicht mehr wert als ein Stück Papier, auf dem ‘bestanden’ steht?
Das Licht der tiefstehenden Sonne wandelte sich von Gelb über Golden zu einem satten Orange. Nasse Ränder auf der Felsenböschung unter ihm zeugten davon, daß die Flut mittlerweile ihren Höhepunkt überschritten hatte.
Torsten ließ es geschehen und genoß diese Zeit der inneren Ruhe, während hinter ihm Fußgänger, Radler und Autos die alte Brücke passierten.
Eine Möwe lauerte über ihm in der Luft auf unaufmerksame Touristen, die für einen Moment nicht auf ihr Essen achtgaben.
Erst als ein kühler Windhauch über seinen aufgeheizten Körper blies, verließ er seinen Gedankenpalast und stieg wieder auf. Während er durch die Neustadt radelte, verfestigte sich in ihm das Gefühl, daß da noch etwas war, das er Max hatte fragen wollen, etwas Wichtiges sogar. Beinahe hatte er die Frage schon gefunden, aber als er sich zu stark auf sie konzentrierte, verflüssigte sie sich wie Butter in der Sonne und rann ihm durch die Finger.
Er hatte wohl etwas lange auf der Brücke gerastet, denn es dämmerte bereits, als er die kleine Parkanlage hinter der Oberschule passierte. Die Straßenbeleuchtung hatte sich noch nicht eingeschaltet und so nahm er die kleine Menschenansammlung unter den Bäumen am Rande des eingezäunten Basketballspielfelds nur grob im Vorbeifahren wahr.
Vier junge Männer standen um einen fünften herum. Etwas in der Körpersprache der Personen erregte aber seine Aufmerksamkeit. Hatte da jemand drohend den Arm gehoben und die Hand zur Faust geballt? Vielleicht sollte er sich das näher ansehen.
Er hielt an, lehnte sein Rad an einen Baum und schlenderte wie ein Spaziergänger in die Richtung, in der er die Gruppe wahrgenommen hatte. Schon nach wenigen Metern kamen sie hinter einigen Büschen in Sicht.
»Kein Handy, sagst Du?«, rief einer der Männer. »Habt ihr gehört, der Waldi hat kein Handy? Ooh, wie traurig! Und das sollen wir Dir glauben?«
»Hier, schaut doch selbst, meine Taschen sind leer.«
Diese Stimme kenne ich!
»Was meint ihr, wollen wir das dem Waldi abkaufen? Du mußt uns bezahlen, wenn Du hier in einem Stück wegkommen willst. Hast Du das verstanden?«
»Aber ich habe auch kein Geld. Das wißt ihr doch.«
»Du mußt uns bezahlen. Was meint ihr, wie soll er uns bezahlen, wenn er kein Geld dabei hat?«
»Meine Sneakers sind ziemlich eingesaut«, sagte eine andere Stimme. »Los, Waldi, leck sie sauber!«
»Meine auch«, sagte ein Dritter. »Los, auf die Knie mit Dir!«
»Nee, auf alle Viere gehört unser Waldi.« Das war die erste Stimme, anscheinend der Anführer. »Na komm, sei ein braver Hund. Oder müssen wir Dich zwingen?«
»Ihr könnt mich nicht zwingen!«
»Ach was, wird unser Waldi widerborstig? Los, runter … AUTSCH! Er hat mich gebissen!«
In diesem Augenblick strich ein leichter Wind von der Gruppe herüber zu ihm und kitzelte seine Nase. Für einen Augenblick roch es ein wenig nach Zitrone.
Und nach nassem Hund!
»Darf ich fragen, was das hier wird?« Mit wenigen Schritten hatte Torsten die kurze Distanz überbrückt und zückte seine Dienstmarke.
»Scheiße, ein Bulle, haut ab!«
Die Vier stoben auseinander. Drei von ihnen verschwanden im Nu von der Bildfläche. Den Vierten hatte Torsten an seiner Jacke zu fassen bekommen.
»Ey, isch hab nix getan! Laß misch gehn!«
Max, der sich bereits auf den Knien befand, blickte überrascht auf seinen Retter, sagte aber nichts.
»Ihren Ausweis bitte!«
Der junge Mann, den Torsten am Schlafittchen gepackt hatte, zuckte unter seinem Kommandoton zusammen und zog das Gewünschte aus einer Jackentasche.
»Dann wollen wir mal sehen.« Torsten ließ ihn los und ging mit dem Ausweis einige Schritte zur nächsten Laterne. Dort fotografierte er ihn mit seinem Smartphone, ehe er ihn zurückreichte. »Okay, Tayfun Yıldırım, das war ja eine wahnsinnig mutige Aktion, vier Leute gegen einen. Sie sollten sich jetzt bei Ihrem Opfer entschuldigen.«
»Aber ich …«
»Das war kein Vorschlag«, unterbrach ihn Torsten rüde. »Und ich rate Ihnen: meinen Sie es ernst! Dann verzichtet dieser Herr vielleicht auf eine Anzeige wegen Nötigung und Raub, für die Sie und Ihre tapferen Freunde sonst eine Weile in den Bau gehen.«
Der Angesprochene schwieg eine Weile. Erst als Torsten sein Telefon erneut zog und eine Streife herbeirufen wollte, hörten sie ein leises »Ey, es tut mir leid. War nicht so gemeint. Kommt nicht wieder vor.«
»Genügt Ihnen das als Entschuldigung?«, fragte Torsten Max in offiziellem Tonfall.
»Sicher«, antwortete der ebenfalls leise.
»Okay, dann können Sie jetzt gehen. Und falls Sie diesem Herrn noch einmal begegnen, grüßen Sie ihn freundlich. Ich weiß jetzt, wo Sie wohnen!«
Torsten gab dem Jugendlichen, den er aufgegriffen hatte, mit dieser Drohung seinen Ausweis zurück. Der steckte ihn ein und spurtete dann los in die Dämmerung.
»Komm mit, Max. Wir müssen reden.« Torsten steckte das Handy ein und ging zurück in Richtung seines Rades.
Der Angesprochene rappelte sich auf und trottete hinterher.
»Als erstes: Bist Du verletzt?«, fragte Torsten, während er sein Rad weiterschob.
»Nur in meinem Stolz«, kam die Antwort, »aber das heilt wieder.«
»Wer waren diese Leute?«
»Ehemalige Mitschüler. Sie haben mich früher schon manchmal abgezogen. Ich habe vorhin nicht aufgepaßt und mich von ihnen überrumpeln lassen.«
»Waldi, so, so. Das ist kein schöner Spitzname.«
»Ich habe ihn mir nicht ausgesucht.«
Es war mittlerweile zu dunkel, um erkennen zu können, ob Max dabei errötete. Schweigend gingen sie weiter.
»Danke Torsten«, sagte der Gerettete dann. »Du hättest ja einfach weiterfahren können. Hattest Du mich erkannt?«
»Nicht gleich. Es war nur eine Ahnung.«
»Deswegen bist Du wohl Kommissar und ich nur Botenjunge.«
Den traurigen Tonfall, in dem er das sagte, konnte Torsten nicht mißverstehen.
»Denk Dir nichts dabei«, sagte er lahm. Die Dinge waren, wie sie eben waren.
»Hoffentlich findest Du bald einen Assistenten.«
»Mach Dir darum keine Gedanken«, sagte Torsten. Im selben Moment fiel ihm auf, daß das schroffer als beabsichtigt klang und er bemühte sich um einen freundlicheren Tonfall. »Was machst Du heute noch?«
Er sah im Licht einer Straßenlaterne, die sich gerade eingeschaltet hatte, wie Max mehrmals schnell und tief Luft holte. Beinahe sah es aus, als ob er hechelte.
»Hast Du Lust, Essen zu gehen?«, sagte er dann so leise, daß Torsten es erst nach einer Gedenksekunde verstand. »Ich lade Dich ein.«
Er fühlt sich mir gegenüber verpflichtet, weil ich ihn da rausgehauen habe. Ich muß professionell bleiben, sonst mache ich mich angreifbar!
»Klar, warum nicht?«, antwortete er.
Wenn ich mitgehe, muß er sich mir gegenüber nicht mehr schuldig fühlen. Professionell sein kann ich später immer noch.
»Da vorne links ist ein Grieche in der Straße. Ist das okay?«
»Ich mag griechisch«, antwortete Torsten.
Und es ist preiswert!
Sie bogen gerade in die Straße ab, da leuchtete es ihnen schon blau-weiß an der nächsten Ecke entgegen. Torsten kettete sein Rad an einen Laternenpfahl. Anschließend betraten sie das Restaurant.
Max war hier offensichtlich Stammgast, denn er wurde vom Tresen aus gleich mit Handzeichen gegrüßt. Einer der Kellner kam auf ihn zu, umarmte ihn und küßte ihn auf beide Wangen. Das schien ihn nicht zu überraschen, auch wenn er die Zärtlichkeit mehr erduldete als genoß.
Auch Torsten bekam einen Handschlag. Ihr Gegenüber erhielt vom Tresen aus einen Wink, nickte und führte sie zu einem freien Zweiertisch im hinteren Bereich.
»Mehr haben wir nicht. Ist voll heute«, sagte der Kellner entschuldigend, reichte die Karten und wandte sich dann an Max:
»Einmal wie immer?«
»Jepp, die Überraschungsplatte bitte.«
»Die nehme ich auch«, sagte Torsten.
Die Brauen des Kellners zogen sich nach oben und Torsten fühlte sich unter seinem prüfenden Blick kurz wie ein Lamm auf der Schlachtbank.
»Sind Sie sicher?«, fragte er dann. »Wollen Sie nicht erst in die Karte schauen?«
Torsten folgte dem Rat und erschrak, als er sah, daß Max die größte Zweipersonenplatte für sich bestellt hatte. Er suchte sich dann doch einen kleineren Grillteller aus und bestellte lieber einen großen Salat dazu.
»Du scheinst öfter hier zu sein«, versuchte er danach ein Gespräch in Gang zu bringen.
»Ich mag griechisches Essen. Hier gibt es immer genügend Fleisch.« Max guckte begehrlich auf die Nachbartische, wo die Gäste bereits aßen.
»Du machst mir Angst.«
»Es ist wirklich nur mein Stoffwechsel.«
Das sollte wohl beruhigend klingen. Als Torsten dann sah, welche Mengen an Essen der Kellner ihnen nach dem Begrüßungsouzo heranschleppte, blieb ihm vor Überraschung der Mund offen stehen. Seine eigene Portion erschien ihm bereits so groß, daß er bezweifelte, alles aufessen zu können. Die Berge an Fleisch vor seinem Gegenüber hätten ihm aber bis zur Brust gereicht, wäre Max nicht so hochgewachsen gewesen.
»Dein Magen muß ein anatomisches Wunder sein«, sagte er nur staunend.
»Wie gesagt: das ist nur schneller Stoffwechsel. Denk Dir bitte nichts dabei.«
»Gibt es auch einen Namen für das Syndrom?«
Max war bereits mit Essen beschäftigt und blieb ihm die Antwort schuldig.
Torsten konzentrierte sich in den nächsten Minuten auf seinen eigenen Teller. Der Salat war frisch und appetitlich angerichtet und das Fleisch auf den Punkt gegart. Komisch, daß er dieses Restaurant noch nie besucht hatte, obwohl auch er nur wenige Straßen weiter wohnte. Ach ja, Václav mochte kein Griechisch und allein machte Essengehen keinen Spaß.
Der Gedanke an seinen Exfreund schmerzte nicht mehr so sehr wie sonst. Vielleicht hieß das, daß er bald über die Sache hinwegkam.
Der Kellner brachte ihnen eine dritte Flasche Wasser. Nachdenklich betrachtete Torsten die beiden leeren Flaschen, die vor ihnen auf dem Tisch standen. Als die Bedienung sie abräumte, stießen sie mit einem leisen Klirren gegeneinander.
Zwei Flaschen …
Zwei …
ZWEI!
»Jetzt weiß ich, was ich Dich fragen wollte!«, rief Torsten.
»Mich fragen?« Max hatte seine Platte in Rekordtempo in sich hineingeschaufelt und blickte lüstern auf die beiden Lammkoteletts, die Torsten noch nicht gegessen hatte.
»Du hast mir gesagt, es gäbe zwei Personen, die in der Lage wären, diesen Fall zu lösen.«
»Ißt Du das da noch?«
»Na los, nimm schon. Wer ist die zweite Person?«
»Danke.« Max gabelte sich geschickt die beiden Fleischstückchen und legte sie auf seinen Teller. »Die zweite Person ist Oberkommissar Aaron Weißhaupt.«
»Was zur Hölle … Wie kommst Du gerade auf den?«
»Wir kommen rum im Botendienst, und ich habe überall zugehört. Weißhaupt und Du, ihr habt eines gemeinsam.« Max knabberte bereits am Knochen des zweiten Koteletts herum.
»Da bin ich aber gespannt. Hoffentlich ist es nicht das, was ich denke.«
»Du meinst, daß ihr beide schwul seid? Darüber wird zwar auch getratscht, aber das spielt für den Dienst keine Rolle.«
»Da bin ich aber beruhigt.« Torsten bemühte sich, nicht allzu sarkastisch zu klingen. »Was ist es dann?«
»Ihr habt Dinge erlebt, die sich mit Logik, Wissenschaft und gesundem Menschenverstand nicht erklären lassen. Das hat euch offener gemacht. Ihr beide tut Fakten nicht gleich ab, nur weil sie nicht ins Bild passen.«
»Fakten wie diese Ereignisse, die sich alle vierzig Jahre wiederholen, meinst Du?«
Sein Gegenüber schwieg und blickte in sein Wasserglas.
»Damit ich das richtig verstehe. Du sagst also, daß dieser verschwundene Partygänger sich zu einem Fall entwickeln wird.«
»Ich bin mir sicher.«
»Warum?«
Max schwieg und trank sein Glas so langsam leer, daß Torsten Sorge bekam, er würde sich an seinem Inhalt verschlucken.
»Ich werde mal zahlen«, sagte er dann.
»Nochmals danke für die Einladung«, sagte Torsten, »aber ohne meine Frage zu beantworten, kommst Du hier nicht weg.«
»Und wenn es keine Antwort gibt?«
»Du meinst, Du weißt Dinge einfach? Dir ist klar, wie sich das anhört.«
Max schwieg eine ganze Weile. Dann winkte er ihrem Kellner und vollführte dabei mit der Hand die ‘Unterschreiben’-Geste. Der kam kurz darauf mit einem Teller, auf dem die Rechnung lag und zwei weiteren Ouzos.
»Zum Wohl!«
»Zum Wohl.«
Beide stießen die Schnapsgläser aneinander und leerten sie in einem Zug. Max legte einige Scheine auf den Teller und stand dann abrupt auf.
»Laß uns gehen.«
»Es ist geschehen«, sagte Max draußen, »und es wird wieder geschehen.«
»Das schließt Du aus einer Handvoll Zeitungsausschnitte, die Du auf einem Dachboden gefunden hast.«
Sie standen unter einer Laterne und sahen sich in die Augen. Max’ Iris wirkte bei diesem Licht nicht mehr blau, sondern beinahe schwarz.
»Laß uns das ein anderes Mal klären«, bat er plötzlich. »Es ist spät und … Ich habe gleich noch eine Verabredung.« Er streckte Torsten die Hand entgegen.
»Viel Spaß.«
Der Händedruck war überraschend kräftig und schon entfernte der junge Mann sich. Er schien es plötzlich eilig zu haben und kurz bevor er aus Torstens Blickfeld entschwand, begann er sogar zu laufen.
Torsten sah ihm nachdenklich hinterher. Offensichtlich erwartete Max von ihm, daß er den Zusammenhang, den er da konstruiert hatte, einfach glaubte.
So arbeiten wir nicht. Das ist das Erste, was er lernen muß.
Torsten drehte sich um, schloß sein Rad auf, setzte sich auf den Sattel und fuhr in Richtung seiner eigenen Straße.
Hoffentlich wird der Besuch im Pressehaus keine Zeitverschwendung.
von
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