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Anna Wagner: Die Schuld des Anton Eschlinger (Cover)
Anna Wagner: Die Schuld des Anton Eschlinger (Cover)

Leseprobe aus »Die Schuld des Anton Eschlinger« von Anna Wagner

Den Anlaß dazu, dieses hier aufzuschreiben, gab mir ein Traum, den ich eines Nachts träumte. Ich werde diesen im Großen und Ganzen ein bißchen ausschmücken, aber die Grundidee wird doch mein Traum bleiben. Die Namen sind frei erfunden. Auch will ich als Zeitpunkt des Geschehens das vorige Jahrhundert wählen, denn heute könnte es wohl kaum so sein, wie ich es erzählen will. Meinen Lesern überlasse ich es nun selbst, herauszufinden, wie weit der Traum und wie weit die Dichtung gehen.
Anna Wagner (1947)


Rundherum von dichtem Wald umgeben lag es da, das alte Eschlinger Gutshaus. In der ganzen Umgebung hieß es aber eigentlich ‘Die Burg’. Mit seinen dicken Mauern und dem großen, runden Turm, der sich an die eine Seite des Hauses anschloß, sah es wirklich aus wie eine kleine Festung.

Wer das Haus und seine Bewohner aus der Zeit vor ungefähr vier Jahren in Erinnerung hat, würde sie jetzt wohl kaum wiedererkennen. Damals hieß der Besitzer dieses Gutes noch Anton Eschlinger. Jeder kannte ihn als offenen, lebenslustigen und immer freundlichen Mann. Zusammen mit seiner Frau Martha führte er das Gut seit vielen Jahren. Aus ihrer Liebe war eine Tochter entsprungen, Ines, die im Laufe der Jahre zu einer schönen Frau heranreifte.

Doch das war lange vorbei. Schlimme Dinge waren zwischenzeitlich geschehen. Anton Eschlinger lebte nicht mehr und ihre Tochter hatte im Streit das Haus verlassen. Jetzt lebte Frau Martha Eschlinger allein und ganz zurückgezogen. Die Felder und Wiesen des Anwesens hatte sie den umliegenden Gütern in Pacht gegeben. Von ihrer Dienerschaft blieb nur die alte Bertha, die nun schon über 20 Jahre für das Gut arbeitete. Die großen Scheunen und Stallgebäude hinter dem Herrenhaus standen leer.

An einem schönen Herbstabend – draußen war es schon ziemlich dunkel – sagte Frau Martha:

»Bertha, sieh doch einmal nach, ob jemand draußen ist. Mir war eben, als ob es geklopft hätte.«

»Wer soll jetzt schon zu uns kommen, gnädige Frau«, meinte Bertha, die es schon gewohnt war, öfter nach draußen geschickt zu werden, obgleich niemals jemand da war. Auch, wenn sie die Frage vermutlich verneinen würde: Martha Eschlinger rechnete immer noch im Stillen damit, daß ihre Tochter Iris eines Tages zurückkommen würde.

Nun ging Bertha auch heute, um nach draußen zu sehen. Gerade wollte sie die Türe wieder schließen und mit einem »Niemand da, gnä’Frau« in die Stube zurückkehren, als sie ein ganz leises Wimmern hörte.

»Ist da jemand?«, fragte sie, doch niemand antwortete. So ging sie ins Haus zurück, um eine Laterne zu holen. Frau Martha, der es zu lange dauerte, bis Bertha zurückkam, ging schließlich selbst zur Tür, um zu sehen, wo sie bliebe. Jetzt kam auch Bertha mit einer Laterne zurück.

»Mir war, als ob draußen jemand weinte, gnä’Frau. Ich wollte gerade noch einmal nachsehen.«

»Iris!«, schrie Frau Martha, riß Bertha die Laterne aus der Hand und rannte hinaus. Die Alte schüttelte nur den Kopf und ging ihr langsam nach.

Einige Meter neben der Türe kniete Frau Martha bei einer scheinbar leblosen Gestalt.

»Bertha, hilf mir bitte. Ich schaffe das nicht allein.«

»Sehr wohl, gnä’Frau!«

Jede griff unter einen Arm. Gemeinsam zogen sie sie hoch, schleiften sie anschließend ins Haus und legten sie in der Wohnstube auf das Sofa.

Drinnen mußten sie dann aber erkennen, daß es sich nicht um Iris handelte. Vor ihnen lag ein fremdes Mädchen. Sie war schlank, besaß ein schmales, blasses Gesicht und blondes Haar. Die Augen hielt sie geschlossen und schien nur ohnmächtig zu sein, denn eine Verletzung sah man nicht an ihr. Bertha holte Wasser, und nachdem sie sie auf das Sofa gebettet hatten, legten sie ihr ein nasses Tuch auf die Stirn.

Das alte Hausmittel wirkte schnell. Das Mädchen schlug die Augen auf und sah sich verwundert um.

»Wo bin ich?«

»Sie befinden sich auf dem Eschlingerhof«, antwortete Frau Martha. »Wir haben Sie soeben vor unserer Türe gefunden.«

»Kann ich… bitte etwas Wasser bekommen? Ich habe schrecklichen Durst.«

Bertha holte ein weiteres Glas Wasser. Die Fremde trank einige Schlucke und gab ihr dann das Glas zurück.

»Das tat gut. Vielen, herzlichen Dank.«

»Fühlen Sie sich jetzt etwas besser?«, fragte Frau Martha. »Wenn Sie mir Ihre Adresse geben, lasse ich Ihre Angehörigen benachrichtigen.«

»Bitte tun Sie das nicht!« Verstört sah das Mädchen sich im Zimmer um. Dann fügte sie leise hinzu: »Ich… ich kann nämlich nicht mehr zurück.«

»Wenn Sie wollen, können Sie übernacht bei uns bleiben, Fräulein…?«

»Geßler, Erna Geßler ist mein Name.«

»Gut«, sagte Frau Martha Eschlinger. Sie erkannte, daß das Mädchen viel zu müde und verängstigt war, um jetzt noch eine Unterhaltung zu führen. »Dann schlafen Sie heute nacht bei uns. Morgen früh sieht die Welt schon ganz anders aus.«

Das Mädchen wirkte nicht überzeugt. Sie ließ sich aber von ihrer Gastgeberin in eine Kammer führen, in der früher eines der Dienstmädchen gewohnt hatte. Bertha bezog das Bett, schlug es auf und Frau Martha sagte:

»Hier können Sie heute nacht schlafen, Fräulein Geßler. Morgen frühstücken wir zusammen und besprechen, was zu tun ist.«

Sie verließen die Kammer und Bertha schloß die Tür.

»Es ist schon spät und morgen könnte es viel zu tun geben, Bertha. Gehen Sie schon zu Bett. Ich werde noch ein wenig in der Stube sitzen.«

Bertha ging, nachdem sie einen Kerzenleuchter in der Stube angezündet hatte. Frau Martha saß noch eine ganze Weile in ihrem Sessel und ließ die letzten Stunden Revue passieren. Wer sie wohl sein mag? dachte sie bei sich. Meine Ines ist mitten in der Nacht von hier verschwunden und jetzt schickt mir das Schicksal dieses arme Mädchen ins Haus. Ob das wohl etwas zu bedeuten hat? Den Namen Geßler kenne ich nicht. Falls Ihre Eltern ein Gut besitzen, muß es weit weg liegen.

Doch sie fand auf ihre Fragen keine Antwort. Sie nahm sich den Kerzenleuchter und begab sich selbst zur Ruhe.
Am nächsten Morgen erwachte sie zeitiger als sonst. Unruhige Träume, in denen Ihre Tochter um Hilfe rief und sie sie nicht erreichen konnte, weil ihre Füße wie in Treibsand zu stecken schienen, ließen sie mehrfach schweißgebadet hochschrecken. Beim Anziehen erinnerte sie sich wieder an die Ereignisse des gestrigen Abends. Sie hatte einen Gast im Hause, die ihre Hilfe brauchte und um die sie sich kümmern würde. Bei Ines hatte sie versagt, aber Fräulein Geßler konnte auf ihre Hilfe zählen.

Sie öffnete leise die Türe der Kammer, in der sie die Fremde untergebracht hatten, um zu sehen, wie es ihr ging. Das Mädchen schlief noch fest. Vorsichtig schloß sie die Türe wieder, um sie nicht zu stören. Als sie in die Küche kam, hatte Bertha schon Feuer gemacht und setzte soeben das Kaffeewasser auf.

Sie wünschte ihr einen Guten Morgen, was Bertha mit einem »Sie hätten doch noch im Bett bleiben sollen, gnädige Frau!« beantwortete.

»Ach Bertha, ich konnte nicht mehr schlafen und außerdem vergißt Du wohl, daß wir einen Gast haben.«

Darauf ging sie ins Wohnzimmer, um den Frühstückstisch zu decken. Sie war noch nicht ganz fertig, als die Türe aufging und das fremde Mädchen auf der Schwelle stand. Sie sah aus als hätte sie sich über längere Zeit zu wenig in der Sonne bewegt und auf ihrer Stirn befanden sich tiefe Falten, die jüngeren Datums zu sein schienen. Nach einem leisen »Guten Morgen« kam sie langsam auf Frau Martha zu und sagte:

»Ich möchte Ihnen danken, daß Sie mich in Ihr Haus aufgenommen haben, ohne mich zu kennen. Sie haben ein gutes Herz!«

»Ach was«, wehrte Frau Martha ab. »Das ist das Mindeste, was ich tun konnte.«

»Ich werde Ihre Güte nicht vergessen. Ich komme nun aber wieder allein zurecht und werde Ihre Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch nehmen müssen.«

»Erst werden sie noch Kaffee mit mir trinken. Lassen Sie uns ein wenig plaudern. Ich habe so selten Gäste hier und freue mich über Ihren Besuch. Vielleicht mögen Sie mir ja auch Ihre Geschichte erzählen.«

Das Mädchen warf ihr einen dankbaren Blick zu, nahm auf dem angebotenen Stuhl Platz und ließ sich von Frau Martha einen Kaffee einschenken, den Bertha eben gebracht hatte.

Während des Frühstücks redeten sie nicht. Die Fremde aß nur wenig und trank eine Tasse Kaffee dazu. Schließlich trug Bertha das Geschirr wieder in die Küche. Frau Martha setzte sich näher an das Mädchen heran und lächelte freundlich.

»So, und nun erzählen Sie mir doch bitte, was Ihnen fehlt und dann wollen wir sehen, wie Ihnen zu helfen ist.«

Das Mädchen nickte stumm und in ihre Augen trat wieder der gequälte Ausdruck des vergangenen Abends. Frau Martha saß geduldig da.

»Lassen Sie sich ruhig Zeit. Wir haben schließlich Sonntag und ich habe heute nichts weiteres vor.«

»Sie sind sehr freundlich, Frau…?«

»Ich heiße Martha Eschlinger und bin hier die Gutsherrin.«

»Ich habe Ihren Namen noch nie gehört. Ich muß sehr weit gelaufen sein.«

»Von wo kommen Sie denn her?«

»Meine Eltern wohnen in Gernrode, einer kleinen Stadt am Rande des Harzes. Von dort bin ich auch gekommen.«

»Das erklärt, warum auch ich Ihren Namen nicht kenne. Wir hatten früher nur Kontakt zu den umliegenden Gütern.«

»Oh, so hochstehend bin ich nicht. Mein Vater ist nur Lehrer am dortigen Gymnasium.«

»Das ist ein ehrenwerter Beruf. Sie müssen sich dafür nicht schämen. Was ist Ihnen denn nun geschehen, daß Sie so verzweifelt sind.«

Erna Geßler blickte eine kurze Weile in ihren Schoß, als suchte sie dort etwas. Dann – nach einigen tiefen Atemzügen – hob sie den Blick und begann zu erzählen:

»Ich habe keine Geschwister und vermutlich hatten sich meine Eltern große Hoffnungen für meine Zukunft gemacht. Bis – ja bis – ich eines Tages den Mann kennenlernte, der mein Schicksal wurde.

Es geschah auf einer kleinen Feier, die ich mit meinen Eltern besuchte. Er war als Freund des Sohnes unserer Gastgeber gleichfalls dazu eingeladen worden. Vom ersten Augenblick, als ich ihn sah, wußte ich, daß mich alles zu ihm hinzog. Wenn er mich mit seinen dunklen, traurigen Augen ansah, überkam mich ein nie gekanntes Gefühl. Als ich dann am nächsten Abend in meinem Zimmer allein war, erkannte ich, daß ich mich in ihn verliebt hatte.

Ich verstand bis dahin noch nicht, was Liebe ist, doch jetzt hatte sie mich mit einer so ungeahnten Macht ergriffen, daß ich ihr erliegen mußte. Ich sah Rolf Gahlern dann öfters.«

Frau Martha zuckte bei der Erwähnung des Namens kurz zusammen, faßte sich aber sofort wieder und lauschte konzentriert Erna Geßlers Erzählung.

»Durch meine Freundin, welche die Schwester von Rolfs Freund war, kam ich fast jeden Tag mit ihm zusammen. Wir gingen des Abends regelmäßig zu viert in den Anlagen der Stadt spazieren und redeten über Gott und die Welt. Ich bemerkte, daß Rolf Gahlern mich wohl zur Kenntnis nahm und wenn ich etwas sagte, so ging er darauf ein und gab mir das Gefühl, daß das, was ich sagte, etwas Wichtiges sei.

Als ich eines Tages wieder zu unserem verabredeten Treffpunkt kam, geschah es, daß ich nur ihn allein antraf. Als wir uns begrüßt hatten, erklärte er mir, daß meine Freundin und sein Freund verhindert seien, zu kommen, und er auf mich gewartet habe, um mir Bescheid zu sagen. Als ich mich verabschieden wollte, um wieder heimzugehen, bat er mich:
›Bitte Fräulein Erna, bleiben Sie doch noch ein Weilchen. Es würde mich freuen, wenn wir uns auch einmal allein unterhalten könnten.‹

Nur zu gern blieb ich bei ihm, obwohl ich mich eines beklemmenden Gefühls nicht erwehren konnte, denn er hatte manchmal einen so traurigen Blick an sich, daß es mir durch Mark und Bein fuhr. Wir gingen noch ein Stück in den Park hinein und als wir zu einer Bank kamen, setzten wir uns. Bis jetzt hatten wir nur über belanglose Sachen geredet, doch als er meinen fragenden Blick sah, sagte er:

›Ja, und nun wollen Sie sicher wissen, was ich Ihnen zu sagen habe.‹

Ich weiß heute selbst nicht mehr, wie es gekommen ist. Wie Feuer glühte es in mir als er mich sagte, daß er mich auch liebe. Als er mich dann küßte, lag ich willenlos in seinen Armen und ich habe wohl seine Küsse auch erwidert. Schließlich fragte er mich, ob ich mit zu ihm kommen wolle.

Diesen milden, warmen Sommerabend werde ich nie vergessen. Rings um uns hörten wir niemanden mehr. Mittlerweile war es schon ein bißchen dämmrig geworden und die meisten Leute waren bereits heimgegangen. Ein feiner Duft lag in der Luft und der Wind spielte leise mit den Blättern der Bäume. Unter diesem Einfluß mag ich gestanden haben, als ich ja sagte. Hand in Hand gingen wir zu ihm. Mir fiel auf, daß er sich mehrmals umsah, ob uns auch niemand folgte. Als wir dann nebeneinander auf dem Sofa saßen und er mich weiter küßte, so zärtlich und innig und gleichzeitig fordernd, da muß mein Verstand ausgesetzt haben und ich wollte nur noch ihn.

Er führte mich in sein Schlafzimmer und ich folgte ihm wie willenlos. Wir liebten uns, als gäbe es kein Morgen. Ich hatte noch niemals erlebt, daß ein Mann so zärtlich sein kann und werde es wohl auch nie wieder. Er sorgte dafür, daß ich wie auf Wolken schwebte, bis es dann schließlich vorbei war.«

»Das muß Ihnen viel bedeutet haben«, sagte Frau Martha mitfühlend, »aber was ist denn aus dem Ruder gelaufen, daß Sie heute so unglücklich vor mir sitzen?«

»Wissen Sie, an diesem Abend fühlte ich zum ersten Mal, was Glück bedeutet. Wie eine Traumwandlerin ging ich anschließend an seiner Seite nach Hause. Als er sich dann vor unserer Türe von mir verabschiedete, bat er mich, doch meinen Eltern nichts von unserer Liebe zu erzählen. Obwohl ich mir nicht recht erklären konnte, warum, versprach ich es ihm trotzdem. Wir küßten uns noch einmal und dann lief ich ins Haus.

Eigentlich hätte ich nun glücklich sein müssen, da ich nun wußte, daß der Mann, dem mein Herz gehörte, mich auch liebte. Aber ich glaube, ich habe schon damals eine Ahnung gehabt, daß es nicht gut ausgehen würde. Ich schlich mich leise in mein Zimmer, damit mich niemand hören sollte, denn ich konnte meinen Eltern so nicht unter die Augen treten. Sie hätten mich sicherlich wegen meines langen Ausbleibens gefragt und ich hätte ihnen nicht antworten können. Als dann meine Mutter später noch einmal in mein Zimmer kam, stellte ich mich schlafend. Es war das erste Mal, daß ich schlafen gegangen bin, ohne vorher Gute Nacht gesagt zu haben.

Rolf und ich trafen uns noch einige Male privat und diese Tage gehörten zu den schönsten meines Lebens. Nach einer Woche verschwand er dann aber plötzlich und es hieß, er sei abgereist. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Einige Tage danach bekam ich einen Brief von ihm, in dem er mir mitteilte, daß ihn ein Telegramm schon in aller Frühe zu seiner Mutter gerufen habe, die ganz plötzlich schwer erkrankt sei. Im übrigen danke er mir für die wundervollen Tage, die ich ihm geschenkt habe. Ich solle ihm verzeihen, wenn er mir mit seiner Abreise wehgetan habe, aber es sei für uns beide so am besten gewesen, denn niemals hätte er sein ruheloses Leben an mein Leben binden können.

Ich kann es Dir nicht schreiben, hieß es unter anderem in seinem Brief, was es ist, das mich bis an mein Lebensende verfolgen wird. Es ist etwas Furchtbares geschehen, über das ich mit niemandem reden kann. Deswegen kann ich niemals wieder mit jemandem dauerhaft glücklich werden. Du hast mich das für eine kleine Weile vergessen lassen. Dafür danke ich Dir von Herzen. Ich hoffe, daß ich mit meinem unbedachten Handeln nicht auch noch Dein Leben zerstört habe. Ich bin nur meinem Herzen gefolgt und habe die Konsequenzen nicht bedacht. Bitte verzeih mir! Dein Rolf.

Man muß es mir wohl angesehen haben, was ich neuerlich durchmachte, denn meine Eltern waren plötzlich sehr besorgt um mich. Ich konnte es ihnen damals auch nicht erklären. Sie haben mich dankenswerterweise nicht bedrängt, weil sie wohl die Zusammenhänge ahnten. Auch ihnen war Rolfs plötzliche Abreise nicht verborgen geblieben. Erst als mir klar wurde, daß ich ein Kind bekommen würde, habe ich es ihnen gesagt.

Kein Wort des Vorwurfs hatten meine Eltern für mich, aber auch kein Wort des Verstehens. Die acht Tage, die ich dann noch in ihrem Hause war, sind mir zur großen Qual geworden. Ich wurde wortlos geduldet, aber nicht mehr beachtet. Deshalb wollte ich die Konsequenzen ziehen für die Scham, die ich ihnen bereitet habe. Vorletzte Nacht habe ich mich heimlich aus meinem Zuhause entfernt, um meinem verfehlten Leben ein Ende zu setzen. Doch als ich dann vor dem Wasser stand, dessen kühle Tiefe mich aufnehmen sollte, und es im Mondschein so schön glitzerte, war es mir, als ob eine leise Stimme mir zuraunte:

Willst Du der einen Sünde noch eine zweite hinzufügen?

Dann dachte ich an das junge Leben, das in mir zum Licht drängte, und da habe ich den Entschluß gefaßt, für sein Leben zu kämpfen. Ich bin die ganze Nacht gelaufen und den ganzen Tag auch noch, bis ich dann abends hier kraftlos zusammenbrach.«

Frau Martha ergriff Erna Geßlers Hand und nahm sie zwischen ihre, sagte aber kein Wort und wartete ab.

»Jetzt kennen Sie meine Geschichte. Danke, daß Sie mir zuhören und danke für alles, das Sie für mich getan haben. Sie verstehen jetzt aber sicher, warum ich gehen mußte, und warum ich auch hier nicht bleiben kann. Nach dem, was ich Ihnen jetzt erzählt habe, werden Sie bestimmt auch nichts mehr mit mir zu tun haben wollen.«

Während Erna gesprochen hatte, hatte sie nicht auf Frau Martha geachtet, sondern wieder vor sich nieder auf ihren Schoß geblickt. Darum bemerkte sie die Änderung in Frau Marthas Verhalten nicht. Als sie sie jetzt ansah, fiel ihr aber die Veränderung in ihrem Gesichtsausdruck auf und sie fragte:

»Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen so elend aus. Sicher habe ich Sie mit meiner Geschichte gelangweilt.«

Doch Frau Martha, die in der Zwischenzeit einen Entschluß gefaßt hatte, wehrte ab: »Ich fühle mich schon wieder besser. Sorgen Sie sich nicht um mich. Es ist nur wegen… doch das will ich Ihnen später erzählen. Jetzt habe ich zuerst einen Vorschlag und zugleich eine Bitte an Sie: Könnten Sie sich vorstellen, für eine Weile hier zu bleiben? Bringen Sie wieder ein bißchen Sonne in mein Haus. Sie würden mir mit Ihrem Bleiben eine große Freude bereiten.«

»Aber ich würde Ihnen doch sicher nur zur Last fallen. Das möchte ich nicht.«

»Der Gedanke ehrt Sie, aber wir werden Ihretwegen keine Not auszustehen haben. Es ist… Bertha und ich leben hier schon seit einiger Zeit ganz allein. Bertha ist nicht mehr die Jüngste und – sagen Sie es ihr bitte nicht – schafft unseren großen Haushalt nicht mehr allein. Sie sehen, daß meine Bitte also nicht ganz uneigennützig ist.«

Sie zwinkerte ihr dabei zu und versuchte so, sie zu einer Entscheidung zu ermutigen. Dennoch zögerte Erna eine Weile mit der Antwort. Dann ergriff sie aber die Hände der Frau, die ihr dieses Angebot gemacht hatte, und sagte:

»Danke, Frau Eschlinger, von ganzem Herzen danke! Unter dieser Bedingung bleibe ich sehr gern hier. Ich will mich gewiß auch nützlich machen und Ihnen keine Last sein!«


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